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Aus: Ausgabe vom 29.11.2025, Seite 11 / Feuilleton
Lyrik

Ist das der Mars?

Verdichtete Landschaften: Kai Pohls »Sterne über Astrachan« mit 100 Gedichten aus vier Jahrzehnten
Von Ken Merten
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Aus dem Triptychon »Mythos« von Paula Krause

Es geht um den richtigen Abstand. Als der zunehmend für Kirche und Krone begeisterte Joseph Roth (1894–1939) die Sowjetunion bereiste, kam er 1926 nach Astrachan. Die von der Fischerei geprägte Stadt an der Wolga, nahe des Kaspischen Meeres, behagte dem heiligen Trinker wenig: »Man erzählt mir, daß reiche Leute vor der Revolution in Astrachan gelebt hätten. Ich kann es nicht glauben. Man zeigt mir ihre Häuser, von denen einige im Bürgerkrieg vernichtet wurden. An den Trümmern erkennt man noch ihre gewesene geschmacklose und prahlerische Größe. Von allen Eigenschaften eines Bauwerks erhält sich die Prahlsucht am längsten, und noch der letzte Ziegelstein protzt. Die Erbauer sind geflüchtet, sie leben im Ausland. Daß sie mit Kaviar gehandelt haben, ist begreiflich.« Roth fragte: »Aber weshalb wohnten sie hier?« Mussten erst die Bolschewiki kommen, um sie von ihrem Elend zu erlösen.

Nicht einmal das »Astra« im Namen hat schließlich etwas mit Himmelskörpern zu tun und leitet sich wohl von der im 14. Jahrhundert von der Goldenen Horde geschliffenen Stadt Hajji Tarkhan ab. Warum also stehen überhaupt Sterne so hübsch auch über Astrachan, das Roth zufolge unumstößlich von Fliegenschwärmen beherrscht wird? Sind die Sonnen der anderen im Kosmos nur deshalb so weit weg, weil sie sich von der stinkenden Erde distanzieren?

Wenn auch das All eitel Abstand nimmt, Kai Pohl tut’s nicht. Der Berliner Dichter, dessen Lyrik auch regelmäßig in dieser Tageszeitung zu finden ist, hat nun mit »Sterne über Astrachan« 100 Gedichte aus vier Jahrzehnten in einem Band vorgelegt. Wie einst bei Walter Serner (1889–1942) rast auch bei Pohl eine Kotkugel um einen Feuerball, das Allzuirdische und das Hypergalaktische finden sich in den Zeilen beisammen.

»Freiheit, Geld, Gewoba, gebt uns, / die wir nichts verlangen, Hiebe / auf den kernigen Kodex«, heißt es unter dem schönsten aller Titel »Ein halbes Paar Socken«; und auch dort: »Im Mittelpunkt steht: / Der Mars, äh, Markt.«

Den Kapitalismus als menschgemachtes Naturwunder und dessen kriegsgöttlichen Überbau lehnt Pohl ohne zu danken ab: »Was soll ich mich konzentrieren, / ich bin doch kein Konzentrat. / Folge der Losung der Tiere. Sie scheißen auf den Staat. // Die Wahrheit steckt im Truthahn, / nicht in der Litanei. Generäle / bis auf den einen, der Streik heißt, / gehn mir am Arsch vorbei.« (»Eine Losung ist noch keine Lösung«)

Auf der Erde ist das Glück bislang nur Nebenprodukt des großen Unglücks: Das vierblättrige Kleeblatt in »Wille & Grind« ist das Ergebnis eines Reaktorunfalls. Pohl zitiert Spontis und K.I.Z: »Chaos peitscht den Wahn der Lage / Chaos peitscht den Wahn / so wirst du durch die Zeit getrieben / zur Ankunft am Abgrund, da stehst du / so gehst du durch die Zeit, so steigst du / so treibst du durch den Schaum, den Sand / la ola – unter dem Pflaster der Strand / und auf den Trümmern das Paradies.«

Wie Pohl mal hier fünfhebige Jamben zwischen ungebundene Verse schmuggelt, mal dort ein Reimpärchen in eine sonst blanke, drei-Akkorde-poppunkige Strophe klemmt, so bringt er das Politische mit Schmu unter. Pohls Distanz zur Didaktik entspricht dem von Prenzlberg zu Proxima Centauri.

Ausbeutung, Berlin und das Schreiben selbst (samt des praktizierenden Personals, von Heinrich Heine bis Rolf Dieter Brinkmann, Georg Heym bis William S. Burroughs, von Frank O’Hara bis Nick Cave) gehören zu Pohls Themen. Seine Poetik beschreibt er selbst am besten, in »Fragment«: »Zerrissene Körper auf Titelseiten, / zu großer Landschaft verdichtet; / die Mischung aus Dada und Beat / bringt es auf den Punk.« Und: »Nichts, nichts. / Die Zukunft ist gegessen. / Der Bruch mit dem Kontinuum der Herrschaft / muss ein Bruch mit dessen / Sprache sein.« Kai Pohl bricht die Sprache in seinem Denklabor, um sie neu herstellen zu können.

Kai Pohl: Sterne über Astrachan. 100 Gedichte (mit Bildern von Paula Krause, einem Vorwort von Jayne-Ann Igel und einem Nachwort von Brigitte Struzyk), Autumnus-Verlag, Berlin 2025, 186 Seiten, 18,90 Euro

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