Was wisst ihr schon?
Von Holger Römers
Bei dem Protagonisten von »Im Schatten des Orangenbaums« ist die Liebe zur Poesie aus der Not geboren. Die Verse, die Salim (Saleh Bakri) in der 2022 angesiedelten Schluss-szene noch einmal rezitiert, hat der im Verlauf der Spielfilmhandlung alt gewordene Palästinenser schon als Kind von seinem Vater Sharif gelernt (der zuerst von Adam Bakri gespielt wird, im fortgeschrittenen Alter dann von Mohammad Bakri). Diese Zeilen auswendig vorzutragen, gehört im Jaffa des Jahres 1948 zu dem improvisierten Heimunterricht, der von den gewaltsamen Vorboten einer baldigen Vertreibung erzwungen ist. Warum der Autor des Gedichts nicht einfach gesagt habe, was er dachte, fragt ein Bruder beim Abendessen der Familie, worauf der junge Salim antwortet: »Weil ein Dichter sich der Sprache der Poesie bedienen muss.«
Mit diesem Wortwechsel mag Regisseurin Cherien Dabis, die zu ihrem dritten Spielfilm auch das Drehbuch verfasst hat, zugleich ihre Wahl einer eher prosaischen Filmsprache reflektieren. Statt um Metaphorik und Symbolik, die Sharif als Merkmale von Poesie benennt, scheint die 1976 in den USA geborene Tochter eines Palästinensers jedenfalls um Klarheit und Unmissverständlichkeit bemüht. Das passt zur offenkundigen Absicht, in wenigen Episoden einer fiktiven Familiensaga – die durch Besuche bei der Verwandtschaft offenbar ebenso inspiriert ist wie durch einen Dokumentarfilm – repräsentative Aspekte palästinensischer Zeitgeschichte zu vermitteln. Und das passt erst recht zu der Annahme, die Dabis als Darstellerin von Salims Ehefrau Hanan früh zu Protokoll gibt, wenn sie in einem Vorgriff auf die Schlussepisode direkt in die Kamera sagt: »You don’t know very much about us.«
Damit wird einerseits dem von Hanan im Gespräch adressierten jüdischen Israeli Unkenntnis palästinensischer Erfahrungen attestiert, andererseits dürfen Zuschauer das mehrdeutige »you« auf sich selbst beziehen – zumal in westlichen Arthousekinos, in denen der englische Satz im Gegensatz zu den anderen, mehrheitlich arabischen Dialogen wohl ohne Untertitel verstanden wird. Nicht zuletzt in Deutschland kann dieser Film, dessen Dreh im Oktober 2023 in den besetzten Gebieten beginnen sollte und dann nach Jordanien, Griechenland und Zypern verschoben wurde, unter solchen Vorzeichen als geschichtspolitische Intervention wahrgenommen werden.
Dabei verdankt sich die Wirkung des Stoffes auch der Ökonomie, mit der Dabis in der ersten Episode den Beginn systematischer Entrechtung und willkürlicher Demütigung erzählt. Dass die bürgerliche Solidität der eine Orangenplantage betreibenden Familie betont wird, beugt effektiv dem von Sharif später sarkastisch aufgegriffenen Vorurteil von einer »Wüste« vor, die erst durch Kolonisation zum Blühen gebracht worden sei. Nachdem Sharifs Ehefrau Munira (Maria Zreik) mit den Kindern zu ihrem Bruder geflohen ist, reichen wenige, lakonische Szenen aus, um das schnelle Abgleiten in die Abhängigkeit von Lebensmittelverteilungen im Flüchtlingslager anzudeuten. Derweil kann sich die körperliche und geistige Erschöpfung, die Sharif befällt, um so deutlicher in seinem Gesicht abzeichnen, weil dieses nach erlittener Prügel, Verschleppung und Zwangsarbeit weitgehend reglos und stumm bleibt – und nach einem Zeitsprung von dreißig Jahren, in der zweiten Episode, sogleich Verunsicherung durch eine aufkommende Demenz spiegelt.
Wenn Salim, der mittlerweile als Lehrer in Nablus arbeitet und mit Hanan eigene Kinder hat, selbst Opfer der potentiell mörderischen Schikane durch Besatzungssoldaten wird, mischt sich in den elegischen Erzählton leise Melodramatik. Deren Zuspitzung endet vorerst in einer Antiklimax, die beiläufig eine hintergründige Einsicht bietet, die sich auf die zuvor von Sharifs Arzt angedeutete Gnade des durch Demenz verursachten Vergessens beziehen lässt. Dagegen mag die weitere melodramatische Steigerung in der 1988, vor dem Hintergrund der Intifada, angesiedelten dritten Episode zunächst abstrakt erscheinen – was nicht zuletzt daran liegen dürfte, dass sie, wie oben angedeutet, aus Marcus Vetters und Leon Gellers Dokumentarfilm »Das Herz von Jenin« (2008) geborgt ist. Allerdings mündet auch sie in einer treffenden Pointe, wenn Hanan aus einem zutiefst humanistischen Impuls die bittere Schlussfolgerung zieht, wohl verrückt zu werden. Das ist beispielhaft für die Genauigkeit einer vordergründig konventionellen Erzählweise, die schließlich bloß eines einzigen Dialogsatzes bedarf, um den naheliegenden Vorwurf der bewussten Einseitigkeit vorsorglich zu parieren.
»Im Schatten des Orangenbaums«, Regie: Cherien Dabis, 145 Min., Palästinensische Autonomiegebiete/USA/BRD/Jordanien u. a. 2025, bereits angelaufen
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