Teils mit Sonnenbrille
Von Arnold Schölzel
Im Umgang mit Chinas Aufstieg nähern sich deutsche Bürgerredaktionen depressiven Zuständen – ungefähr den Exporten dorthin folgend: Die sanken innerhalb von fünf Jahren um 25 Prozent. Der in Shanghai arbeitende Manager Kevin Chen schreibt dazu am Dienstag in einem Handelsblatt-Gastkommentar: »Noch vor zehn Jahren war ›Made in Germany‹ im chinesischen Markt ein selbstverständliches Verkaufsargument für Importindustriegüter. Heute hören wir regelmäßig dieselben Einwände: lange Lieferzeiten, schwierige Erreichbarkeit, zähe Reklamationen – und zunehmend der Verweis auf funktional gleichwertige Inlandsalternativen.«
Die Knobelbecherdiplomatie Johann Wadephuls steht repräsentativ für die eine Reaktion des deutschen Establishments auf solche Unbotmäßigkeit. Die einsetzende Flucht deutscher Firmen zur Produktion in der Volksrepublik für die andere. Das Hin- und Hergerissensein ist in zwei am Montag erschienenen Beiträgen des Shanghaier Handelsblatt-Korrespondenten Martin Benninghoff nachzulesen. Der erste Artikel ist mit »Chinas Überwachungsmodell auf Exportkurs« überschrieben. Unterzeilen: »Kameras, Checkpoints, Informanten: Die autonome Provinz Xinjiang dient zunehmend als Vorzeigemodell für autoritäre Staaten. Unser Reporter hat sich den Überwachungsstaat angeschaut.« Das Ergebnis: eine dürre These – »für Peking ist die autonome Region Xinjiang längst ein Labor für politische Kontrolle« – und wenig Belege. Die sind: »Selbst vor der Filiale von Kentucky Fried Chicken in Kashgar steht eine Sicherheitsschleuse wie an einem Flughafen.« Dazu kommt ein Taxi mit drei Männern, die »über Tage hinweg« und »teils mit Sonnenbrille« jeden Schritt Benninghoffs überwacht hätten. Das war’s. Benninghoff erwähnt nicht das Pogrom von Separatisten und Dschihadisten, bei dem 2009 etwa 140 Menschen, vorwiegend Han-Chinesen, in Xinjiang getötet wurden, und auch nicht die nachfolgenden Anschläge. Die Region grenzt unter anderem an Pakistan, Afghanistan und Tadschikistan, die dschihadistische Gefahr ist akut. Richtig ist: Es gibt heute noch viele Checkpoints, aber die harten Antiterrormaßnahmen der ersten Zeit nach den Anschlägen wurden zurückgenommen.
Der Rest der »Reportage« sind Sätze aus dem Anti-China-Stehsatz: Bemerkungen namenloser Experten, Auskünfte einer texanischen Universität oder des in München ansässigen und von Deutschland gepäppelten separatistischen »Uigurischen Weltkongresses«, der Xinjiang »Ostturkestan« nennt. Benninghoff setzt nicht auf Fakten, sondern auf Geraune: »Der politische Druck steigt weiter«, »die Ruhe ist fragil«, »Programme bringen Arbeitskräfte in Fabriken, wo sie politisch beeinflusst werden« usw. Die Realität ist: China baut Infrastruktur Richtung Zentralasien und für Tourismus aus – Autobahnen, Hochgeschwindigkeitseisenbahnen, Flughäfen, Hotels. Und viele Wohnungen.
Kontrast: Einige Seiten weiter druckt das Handelsblatt ein Interview ab, das Benninghoff mit dem VW-Chef in China, Ralf Brandstätter, und Yu Kai ab, Chef des Unternehmens Horizon Robotics in Beijing, geführt hat. Beide Firmen entwickeln gemeinsam einen Chip für autonomes Fahren. Laut Yu ist der Entwicklungssprung »vergleichbar mit dem des Smartphones«. Pflichtgemäß fragt Benninghoff, ob das »noch der richtige Zeitpunkt« für das stärkere VW-Engagement in China sei. Brandstätter: »China ist der größte und innovativste Automarkt der Welt. Die Nähe zum lokalen Technologieökosystem ist ein strategischer Vorteil.«
Schlusspunkt: Am Donnerstag beantragten CDU/CSU und SPD im Bundestag die Einsetzung einer »Kommission zur Überprüfung der sicherheitsrelevanten Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und China«. Neue Chips hat die Koalition nicht im Sinn. Eher innen verspiegelte Sonnenbrillen.
Pflichtgemäß fragt Benninghoff, ob das »noch der richtige Zeitpunkt« für das stärkere VW-Engagement in China sei. Brandstätter: »China ist der größte und innovativste Automarkt der Welt. Die Nähe zum lokalen Technologieökosystem ist ein strategischer Vorteil.«
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