Volk ohne Wagen
Von Daniel Bratanovic
Autoland ist ausgebrannt. Am kommenden Mittwoch stehen bei Volkswagen die Bänder still. Nach Informationen von Bild wird im Wolfsburger Werk die Fertigung des VW Golf ausgesetzt. Die Produktionspause soll dann schrittweise auf weitere Modelle beziehungsweise weitere Standorte ausgedehnt werden. Das Management des Autokonzerns wollte diesen Schritt zunächst nicht bestätigen. Noch am Mittwochmorgen hieß es in einem internen Brief an die Mitarbeiter, die Produktion sei trotz Chipmangel »unbeeinträchtigt«. Allerdings enthielt das Schreiben bereits eine Warnung: »Vor dem Hintergrund der dynamischen Lage können Auswirkungen auf die Produktion kurzfristig jedoch nicht ausgeschlossen werden.« Nach Angaben von Bild führt VW bereits Gespräche mit den Arbeitsagenturen über Kurzarbeit. Davon könnten Zehntausende Beschäftigte betroffen sein.
Der Fertigungsausfall steht im Kontext des Handelskrieges, den die USA gegen China führen und der inzwischen auch am Industriestandort Deutschland ausgetragen wird. Dabei geht es um einen Lieferstopp des niederländisch-chinesischen Chipherstellers Nexperia. Das Unternehmen stellt Standardchips her, die insbesondere in der Automobilproduktion zum Einsatz kommen, etwa bei Warnblinkern, Airbags und Antiblockiersystemen. Bis zu 500 Bauelemente stecken in jedem einzelnen Auto. Nexperia ist mit einem Marktanteil von 40 Prozent der weltgrößte Anbieter solcher einfachen Halbleiter und erzielt etwa die Hälfte seines Umsatzes mit der Autoindustrie.
Seit 2019 befindet sich die Firma im Besitz des chinesischen Techkonzerns Wingtech. Ein Umstand, der in Washington D.C. schon länger auf Missfallen stößt. Ende 2024 landete Wingtech auf einer Liste von Unternehmen, die von den USA mit Sanktionen belegt werden. Am 29. September wurde diese Liste ohne Einzelfallprüfung um die jeweiligen Tochterunternehmen erweitert. Nur einen Tag später brachte das niederländische Wirtschaftsministerium Nexperia unter seine Kontrolle, Unternehmenschef Zhang Xuezheng – Gründer von Wingtech – wurde abgesetzt, die Verwaltung sämtlicher Unternehmensaktien vorläufig einem Treuhänder übertragen.
Die chinesische Seite reagierte prompt auf diese Enteignung und erließ Exportkontrollen. Mit erheblichen Folgen. Denn was etwa im Nexperia-Werk in Hamburg hergestellt wird, landet nicht sofort bei VW oder anderen Autobauern, sondern wird erst in einem weiteren Schritt, der in der Volksrepublik erfolgt, zu den fertigen Dioden oder Transistoren weiterverarbeitet und anschließend nach Europa reexportiert – oder eben nicht. Jetzt herrscht eklatanter Mangel an solchen einfachen Halbleitern, nicht nur bei Volkswagen. Er trifft die gesamte Autobranche, die sich um den Aufbau von Lagerbeständen kaum kümmern zu müssen glaubte – und eine Alternative gibt es kurzfristig nicht, da Halbleiter anderer Hersteller erst getestet und zertifiziert werden müssen.
Die akuten Stockungen der Automobilproduktion bezeugen einen Vorgang größerer Art. Der einheitliche Weltmarkt, vor einem Vierteljahrhundert als friedliche Globalisierung gefeiert, mit ungehindertem Freihandel, globalen Lieferketten und Just-in-time-Produktion gerät an sein Ende. Eine technologisch und wirtschaftlich eng vernetzte Welt wird gegenwärtig in Blöcke aufgeteilt.
Am Tag, als die deutsche Öffentlichkeit von Produktionsstopps bei Volkswagen erfuhr, meldete dpa, dass der älteste VW Käfer der Welt, ein Modell aus dem Jahr 1937, wieder fahrtüchtig sei. Halbleiter von Nexperia sollen darin nicht verbaut sein.
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