»In China, for China«
Von Luca von Ludwig
Man sagt, kein Plan übersteht den Kontakt mit der Realität. Und die Pläne der europäischen Autobauer für ihre nähere Zukunft dürften in den vergangenen Wochen wohl so durcheinandergewirbelt worden sein wie nur selten. Die Beschränkung des Exports seltener Erden seitens Chinas und die Krise um den niederländischen Zweig des Chipherstellers Nexperia offenbarten die Abhängigkeiten der hiesigen Autokonzerne von der globalen Halbleiterökonomie. Wohl auch, um diesem Dilemma entgegenzusteuern, kündigt Volkswagen nun an, in Kooperation mit einem chinesischen Unternehmen einen eigenen Prozessor für die autonomen Fahrassistenzsysteme seiner Modelle entwickeln zu wollen.
»Durch die Entwicklung des Prozessors hier in China übernehmen wir die Steuerung über eine Schlüsseltechnologie, die die Zukunft des intelligenten Fahrens bestimmen wird«, sagte VW-Chef Oliver Blume am Mittwoch auf der Internationalen Importmesse (China International Import Expo, CIIE) in Shanghai. Wie das Onlinejournal Car News China berichtet, soll für die Entwicklung des neuen Prozessors ein Gemeinschaftsunternehmen zwischen Volkswagens Softwaretochter Cariad und dem chinesischen, auf intelligente Fahrsysteme ausgelegten Hardwarehersteller Horizon Robotics gebildet werden. 200 Millionen US-Dollar sollen demnach in die Kooperation investiert werden.
Bei dem Prozessor selbst handelt es sich um ein SoC-System (System-on-Chip, also die Verbauung aller Komponenten auf einem einzelnen Board, wie es unter anderem bei Smartphones üblich ist), das eine Leistungsfähigkeit von 500 bis 700 Billionen Operationen pro Sekunde (Tera Operations per Seconds, TOPS) erreichen soll. Zum Vergleich: Aktuell führende Mobilprozessoren bringen es auf etwa 80 TOPS. Eine Fertigstellung wird in drei bis fünf Jahren angestrebt. Mit dem Chip will VW die Fähigkeit seiner Autos zum teilautonomen Fahren ausbauen, um auf dem chinesischen Markt mithalten zu können.
Dort verzeichnete der deutsche Vorzeigekonzern zuletzt deutliche Absatzeinbrüche. 2023 verlor VW seinen Spitzenplatz auf dem weltgrößten Automarkt an den chinesischen Konkurrenten BYD. Grund dafür war vor allem die Elektroautosparte. Doch auch die Fahrassistenzsysteme sind ein wesentlicher Konkurrenzfaktor. Diese werden in China in fünf Stufen eingeteilt, die von grundlegender Assistenz in Notfällen bis zum vollautonomen Fahren reichen. Der neue Chip soll die VW-Modelle mindestens auf Stufe drei bringen, das heißt, die Autos sollen unter bestimmten Verkehrsbedingungen im Selbstfahrbetrieb laufen dürfen.
Die Ansiedlung der für zuvorderst den chinesischen Markt relevanten Technologieentwicklung im Land selbst bezeichnete Volkswagen als Strategie des »In China, for China«. Diese Formulierung spiegelt einerseits die Äußerungen mehrerer Kapitalvertreter bezüglich der Geschäftsentwicklung: Am Mittwoch kommentierte die Investmentbank J. P. Morgan Chase beispielsweise die überraschend guten Geschäftszahlen von BMW laut Reuters damit, dass die Stabilisierung des China-Geschäfts »das, was wirklich zählt«, sei. Der Chemieriese BASF verkündete ebenfalls am Mittwoch den Betriebsstart eines neuen Werkes in der Volksrepublik. Gegenüber Kritikern verteidigte die Konzernspitze das Projekt damit, dass am chinesischen Wachstumsmarkt kein Weg vorbeiführe.
Über den bloßen Verkauf des Hergestellten stellt »In China, for China« andererseits einen um sich greifenden, grundlegenden Paradigmenwechsel der globalen Produktivverhältnisse dar: Betrachteten nicht wenige im Freien Westen die Volksrepublik noch vor wenigen Jahren als verlängerte Werkbank mit billigen Arbeitskräften, hat sich das Blatt mittlerweile gewendet. Nicht mehr die Konsumgewohnheiten europäischer und US-amerikanischer Verbraucher, sondern die chinesischen sind es, die die Kapazitäten des westlichen Kapitals immer entscheidender steuern.
Volkswagens neuer Prozessor jedenfalls wird nicht in China billig entwickelt, um dann die ganze Welt zu versorgen – er ist für die Anforderungen des dortigen Marktes konzipiert. Wie ein Konzernsprecher jW mitteilte, gibt es jedenfalls bisher keine Pläne, die Technologie auch im westlichen Fahrzeugbau zu verwenden.
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