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Aus: Ausgabe vom 13.11.2025, Seite 10 / Feuilleton
Nachruf

Auf die Höhe des eigenen Anspruchs

Zum Tod des Erziehungswissenschaftlers und Publizisten Micha Brumlik
Von Gerhard Hanloser
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Micha Brumlik (1947–2025)

Micha Brumlik ist am Montag nach langer Krankheit im Alter von 78 Jahren gestorben. Der emeritierte Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main und ehemalige Direktor des Fritz-Bauer-Instituts, das sich der Erforschung des Holocausts widmet, spielte nicht nur im jüdischen Leben und der Linken Frankfurts eine wichtige Rolle. Er intervenierte auch rege in die bundesweiten, zumal linken, Debatten über Israel, Palästina und Antisemitismus. Seine Positionen wurden stark wahrgenommen.

Ein Tag vor seinem Tod wurde der jüdische US-Philosoph Jason Stanley aus der Frankfurter Westend-Synagoge geworfen, weil er in einer Rede erwähnt hatte, dass Hannah Arendt mit ihrer kritischen Haltung zu Israel heute in Deutschland gecancelt würde. Den Beweis für Stanleys These trat der konservative, proisraelische Teil des Publikums umgehend selbst an. Hat Brumlik diesen Vorfall noch mitbekommen? Er hätte ihn als Teil der systematischen Repression durch rechte Akteure betrachtet, die er als »neuen McCarthyismus« bezeichnete. 2021 kritisierte Brumlik das Konstrukt des »postkolonialen Antisemitismus« scharf und wurde zu einer bedeutenden Stimme gegen eine Inflation des Antisemitismusvorwurfs, der mittlerweile routiniert gegen Kritiker der israelischen Politik erhoben wird. Im selben Jahr zählte er zu den Unterzeichnern der »Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus«, die sich von der weiten »Arbeitsdefinition« der International Holocaust Remembrance Alliance abgrenzt und eine präzisere Begriffsverwendung ermöglicht. Auch weigerte er sich, in den Befürwortern der Boykottkampagne gegen Israel, BDS, schlicht »Antisemiten« zu sehen. Brumlik betonte, dass »die amtierende israelische Regierung erhebliche Mittel aufwendet, um alle möglichen Formen der Kritik an ihr in das Licht des Antisemitismus zu rücken, und das ist heftigst zurückzuweisen«. Einen unterschiedslosen Boykott lehnte er selbst freilich ab.

Brumliks Eltern mussten vor den Nazis in die Schweiz flüchten. Sein Vater hatte sich in der zionistischen Jugendbewegung engagiert und idealisierte Israel aus der Ferne. Der 1947 in Davos geborene Sohn lebte nach seinem Abitur 1967 zwei Jahre in Israel. Dort studierte er Philosophie und arbeitete in einem Kibbuz. In seiner empfehlenswerten Autobiographie mit dem vielsagenden Titel »Kein Weg als Deutscher und Jude. Eine bundesrepublikanische Erfahrung« von 1996 schreibt er, dass er Israel als imperialistisch und gegenüber den Palästinensern ausbeuterisch wahrnahm. Zur Zeit der Revolte von 1968 war er antizionistisch eingestellt und Mitglied der linkssozialistischen bis trotzkistischen israelischen Gruppe Matzpen. Auch später, als er nach Westdeutschland zurückgekehrt war, begriff Brumlik den Zionismus in seinen zahlreichen Veröffentlichungen als Teil des europäischen Kolonialismus. Nun wandte er sich zugleich entschieden gegen jede Form des Antizionismus.

Während des Golfkriegs 1991 erkannte er in antiimperialistischen Linken sogar eine zu bekämpfende gegenaufklärerische und antisemitische Kraft. Aus innerlinker Diskussion wurde Denunziation. Damit ging er den Weg so vieler aus der Linken kommenden BRD-Intellektueller. Das Sozialistische Büro und die Föderation Neue Linke, in denen er in den 70ern und frühen 80ern politisch aktiv war, waren noch der Fundamentalopposition verpflichtet. Anfang der 80er Jahre war Brumlik Teil der »Jüdischen Gruppe Frankfurt« um Intellektuelle wie Dan Diner und Cilly Kugelmann, welche die konservative Jüdische Gemeinde kritisierte.

Brumlik dachte in Konstellationen. Angesichts des von Israel gedeckten Massakers in ­Sabra und Schatila im Libanonkrieg 1982 erklärt er, die »erste Assoziation«, die sich ihm aufdränge, sei: »Babi Jar! Babi Jar!« – jenes Massaker, das 1941 ukrainische Hilfskräfte mit deutschen »Einsatzgruppen«, der SS und unter Beihilfe von Wehrmachtssoldaten an zusammengetriebenen, wehrlosen Juden verübt hatten. Dementsprechend scharf fiel seine Kritik an Israel aus. Doch Brumlik und seine oft polemisch auftretenden Mitstreiter teilten nicht nur gegen ein rechtes Israel und dessen Unterstützer aus, auch linke Antiimperialisten, die die Parole »Weg mit Israel!« ausgaben, bekamen ihr Fett weg. Damals betonte Brumlik, dass die »zionistische Struktur« und die israelische Besatzungspolitik beendet gehörten, wies aber einen generellen »Antizionismus« zurück – zumal dieser zusehends von fundamentalistischen und irrationalistischen Strömungen des Islam verkörpert wird.

Brumlik wollte, so schrieb er in seiner Autobiographie, die Linke »durch Kritik an ihren undurchschauten Traditionsbeständen auf die Höhe des eigenen Anspruchs« bringen. Ab 1989 war er Frankfurter Stadtverordneter für Bündnis 90/Die Grünen, er war Parteimitglied. Brumlik war vielleicht selbst nicht immer auf der Höhe des linken Anspruchs. Israelkritische Positionen vor allem von nichtjüdischen Zeitgenossen verstand er oft vorschnell als antisemitisch. So startete er noch 2003 eine kleine Kampagne gegen den Moral­philosophen Ted Honrich, der Terroranschläge mit Blick auf die unterschiedlichen Lebenschancen ganzer Bevölkerungsteile als »moralisches Recht« bezeichnet hatte. Jürgen Habermas hatte seinerzeit Honrichs Buch »Nach dem Terror« dem Suhrkamp-Verlag empfohlen und in der Debatte »hermeneutische Nachsicht« mit dem Autor gefordert. Auch die radikale Israel-Kritik des deutsch-französischen Politikwissenschaftlers Alfred Grossers wollte Brumlik nicht nur nicht teilen – er wollte ihn ganz aus dem Diskurs ausschließen.

Brumliks Lösungsvorschläge des Israel-Palästina-Konflikts verblieben immer im Rahmen einer Zweistaatenlösung. Schließlich versprach er sich sogar von der EU-Erweiterung eine Integrations- und Friedensdynamik. Der Staatenverbund könnte auch Israel aufnehmen, worauf eine Assoziation eines unabhängigen Palästinas folgen könne. Das war nicht mehr als eine grüne Nebelkerze. Der beständige Taz-Autor Brumlik formulierte oft genug derlei illusionäre Visionen und war einem bürgerlich-linken Milieu Bezugsfigur, das wusste, von wem man sich fernhalten sollte: von Kommunisten und anderen finsteren Gestalten.

Doch: Mit Micha Brumlik fehlt eine wichtige Stimme, die den rechten jüdischen und nichtjüdischen Zionisten deutlich widerspricht. Eine Persönlichkeit, an der sich eine radikale Linke, vor allem eine nichtjüdische deutsche Linke, produktiv reiben sollte. »Antizionismus« kann nach Polemik und Kritik von Brumlik und anderen kaum mehr unhinterfragtes, identitäres oder schablonenhaftes Selbstbekenntnis einer Linken sein.

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