Die liebe Familie
Von Roland Kohl
»Mit Geschenken ist es genauso wie mit Witzen«, erklärt Charlotte (Camille Lellouche) ihrem Seelenklempner. Bei Witzen würde von einem erwartet werden, dass man lacht, und bei Geschenken, dass man sich riesig freut. Beides liegt Charlotte gleichermaßen wenig. Bei dem Glück, das sie von Beginn an in ihrem Leben gehabt zu haben scheint, versteht es sich fast von selbst, wann sie Geburtstag hat: am 22. Dezember, folglich zwei Tage vor Weihnachten, also Doppelpack. – Was wird dieses Jahr wohl schlimmer werden? Die Feier mit der Familie? Oder die Überraschung ihrer lieben Kollegen?
Ein Griesgram, der genervt auf das Fest der Liebe zusteuert, ist freilich ein alter Hut. Doch solange er oder sie auch schön mürrisch bleibt, habe ich immer meine kindliche Freude daran. Auf Konstanz wird in »Das perfekte Geschenk« denn auch bis zum Schluss geachtet; bemerkenswerterweise wirklich nur bis zum Schluss (mehr dazu am Ende).
Neben dem unterhaltsamen Ineinandergreifen der vielen Wendungen, manchmal mehrere innerhalb von Minuten, verzaubert auch deren intellektuelle Spritzigkeit. Es soll nicht nur gelacht werden – vor allem nicht erst gelacht und dann geweint; eine Mode, die sich für meinen Geschmack schon etwas zu lange hält. Was uns in »Das perfekte Geschenk« freudig überrascht, sind Charaktere, die nur ihren Gefühlen folgen. Doch woher kennen wir die? Wie kommt man an das Innenleben der Helden heran? Richtig, mit der Brechstange!
Beinahe alle Mitglieder von Charlottes Familie erleben wir während eines Besuchs bei dem bereits erwähnten Psychotherapeuten. Es ist tatsächlich immer derselbe, weil es vermutlich kostbare Behandlungszeit spart, wenn der Therapeut mit den Familienverhältnissen bereits vertraut ist. Auf jeden Fall wissen wir dank der Sitzungen, warum Charlottes Vater glaubt, am zweiten Weihnachtsfeiertag um 14.37 Uhr sterben zu müssen, und auch, warum ihre Mutter sich nicht traut, die ewig gleichen Geschenke ihrer eigenen Mutter sofort in den Mülleimer zu stopfen, und so weiter. Der Einzige, der sich nie auf die Couch legt, ist Charlottes Bruder Jérôme (Max Boublil). Er steht ohnehin ein wenig außerhalb des Kerns der Story.
Vor etlichen Jahren war die Komödie »Ziemlich beste Freunde« ein Riesenerfolg; es ging um einen Rollstuhlfahrer und seinen neuen Betreuer, der kein Mitleid kennt. »Das perfekte Geschenk« greift dieses Thema erneut auf. Nur dass es dieses Mal vier Handlungsstränge gibt, die sich erst im Finale, dem Weihnachtsessen, vereinen. Und bei vier Strängen wartet eine Spitzenkomödie freilich auch mit mehreren Variationen auf: das Selbstmitleid des hypochondrischen Alten, die Mutter, der ihre Mutter leidtut, und schließlich Charlotte, die allen leidtut, weil sie mit 33 noch kein Kind hat, noch keinen Freund und auch keine Witze mag.
Ihren Bruder Jérôme bedauert niemand: toller Job, großes Auto und nun auch noch eine neue Freundin. Sie heißt Océane und ist als Sängerin bei den Nachwuchskonsumenten sehr angesagt. »Die Dumpfbacke nimmt die Eltern nur aus und sexualisiert die Kinder«, lautet das Urteil von Jérômes Schwester Julie (Mélanie Doutey) über Océane. Julie hat als einziges der drei Geschwister eigenen Nachwuchs. Ihre Tochter fährt auf Océane, die sie bislang nur aus der Glotze kennt, total ab.
Vermutlich wird Jérôme schon bald als nächster in die Liga der Enkelmacher aufsteigen, doch vorher muss er Océane noch seiner Tante Rivka vorstellen, einer Holocaustüberlebenden. »Bei ihrer Befreiung hat sie nur 17,2 Kilogramm gewogen«, brieft Jérôme seine Liebste auf der Fahrt zur Tante. »Man muss allerdings dazusagen, dass sie sehr klein ist.«
Wie es der Filmtitel vermuten lässt, erscheint Océane bei der so wichtigen Visitation nicht ohne Präsent, nicht ohne ein Geschenk des Herzens. Sie hat für die Tante ein Lied geschrieben. Die Musik ist so lala, nullachtfuffzehn-Synthiepop, doch der Text hat es in sich:
Tochter von Auschwitz / Tochter von Birkenau / von den Faschisten verschleppt / war dein Leben eher mau / alles dunkel und fahl / und dein Kopf/ war ganz kahl …
Hier ist noch lange nicht Schluss, aber ich zitiere besser nicht weiter, denn es kommt noch schlimmer, also noch lustiger. – Dumpfbacke hin, Dumpfbacke her: Océane schnallt nach ihrer Darbietung durchaus, dass das jetzt vielleicht doch nicht das ganz tolle Geschenk war.
Wirklich großartig, ergreifend und auch einleuchtend wird ein paar Szenen später gezeigt, wie dieser Schlamassel wieder aus dem Weg geräumt wird. Weihnachten kann kommen!
Und das Allerschönste ist, dass in diesem Jahr die griesgrämige Charlotte nicht allein zum großen Fest der Familie anreist. Sie hat einen sehr gut aussehenden jungen Mann dabei. »Ich habe für ihn mein letztes Hemd hergegeben«, vertraut sie ihrer Schwester bei einer heimlichen Zigarette im Freien an.
Tja, die schönsten Geschenke macht Frau sich noch immer selbst. Doch auch für Charlotte soll es noch besser kommen, wie jedes Mal im Film, und erst recht danach (Abspann kieken!).
»Das perfekte Geschenk«, Regie: Raphaële Moussafir, Frankreich 2024, 84 Min., Kinostart: heute
Tageszeitung junge Welt am Kiosk
Die besondere Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Mehr aus: Feuilleton
-
Auf die Höhe des eigenen Anspruchs
vom 13.11.2025 -
Eine Kuh namens Mücke
vom 13.11.2025 -
Zu den Sternen
vom 13.11.2025 -
Nachschlag: Frau Columbo
vom 13.11.2025 -
Vorschlag
vom 13.11.2025 -
Tier werden
vom 13.11.2025