»Was empfinden Sie jetzt?«
Von Eileen Heerdegen
»Jeder Tritt ein Brit, jeder Stoß ein Franzos«, aber vor allem: »Serbien muss sterbien!«
Auf der Bühne des Wiener Burgtheaters beginnt der Erste Weltkrieg und mit ihm »die letzten Tage der Menschheit«, wie der Wiener Literat und Journalist Karl Kraus sie in 220 Szenen mit über 1.000 Figuren und 200 Schauplätzen skizzierte.
»’s ist Krieg! ’s ist Krieg! O Gottes Engel wehre, / Und rede du darein! / ’s ist leider Krieg – und ich begehre, / Nicht schuld daran zu sein!«
Karl Kraus, eigentlich stets als eitler, selbstgefälliger Misanthrop beschrieben, nannte das »leider« in Matthias Claudius’ »Kriegslied« (1778) den »tiefsten Komparativ von Leid, vor dem alle Leidenslyrik vergeht«. Sein eigenes, satirisches Mammutwerk gegen Leid und Wahnsinn des Krieges, entstanden zwischen 1915 und 1922 und nach eigener Einschätzung unspielbar, ist Verzweiflung und Anklage, gespeist aus realen Begebenheiten, Presseberichten und Gesprächsfetzen. »Die grellsten Erfindungen sind Zitate«, heißt es im Stück.
Die von Dušan David Pařízek inszenierte Koproduktion mit den Salzburger Festspielen reduziert das mächtige Werk auf sechs Personen und eine schlichte Bühne. Trotzdem beginnt der Krieg im Theater an der Wiener Ringstraße laut und aufgeregt. Marie-Luise Stockinger als Alice Schalek, ein Tsunami in Gestalt einer Kriegsreporterin. Der Kontrast zu ihrer androgyn-mädchenhaften Ausstrahlung verstärkt das Manische; neugierig aufgerissene, fast kindlich wirkende Augen, fanatische Kriegsgeilheit in Großaufnahme auf den mächtigen Holzkubus in Bühnenmitte projiziert.
Die Stimmung ist fröhlich, siegesgewiss – zwei, drei Wochen, wie »Patriot« Vinzenz Chramosta (Branko Samarovski) schätzt. Peter Fasching als Feldwebel Sedlatschek freut sich ebenso auf die Front wie der hessisch babbelnde Militärpfarrer Allmer (Felix Rech), während der deutsche Diplomat Schwarz-Gelber samt schauspielernder Ehefrau (Michael Maertens und Dörte Lyssewski) noch etwas lebensgelangweilt scheinen.
Doch Alice schafft sie alle, zur Not mit völliger Verdrehung der Tatsachen, Gegenspieler »Koarl«, der »Nörgler«, der sich vom Bühnenrand einzumischen versucht, bleibt neben Schaleks heiligem Wahn farblos. Das gilt auch für Elisa Plüss, die in dieser Rolle als Kraus’ Alter Ego wichtige Dinge zu sagen hat, die leider oft akustisch untergehen (insgesamt ein Problem) und (ausgerechnet) zu den eher langatmigen Momenten des Abends gehören.
»Wenn er (Karl Kraus) daraus vorlese, sei man wie erschlagen. Da rühre sich nichts im Saal, man getraue sich kaum zu atmen.« So die Reaktion von Zeitzeugen, wie Elias Canetti sie beschreibt, und so das Gefühl nach diesem Abend. Auch wenn das Konzept der Aufführung unklar bleibt, die vielen Dialekte – wienerisch, hessisch, hamburgisch, das schweizerisch gefärbte Deutsch von Elisa Plüss und immer mal wieder Berliner Schnauze (same same but different?), auch wenn die starke Konzentration auf die Figur der Alice Schalek sie fast zu individuell, und nicht als Teil einer gemachten öffentlichen Meinung wirken lässt; auch wenn man Manches kritisieren könnte, so präsentiert das Ensemble eine starke Arbeit, aufwühlend, anstrengend, eine große schauspielerische Leistung. Allen voran Marie-Luise Stockinger, auch und überraschend Peter Fasching, der neben seiner Soldatenrolle auch für Musik und Videodesign verantwortlich zeichnet, selbst mit diversen Instrumenten (bis zum Alphorn) die Livemusik inklusive special sound effects (Schüsse, Kanonenkugeln) beisteuert und Alice kriegstrunken rappen lässt. Wunderbar auch der 86jährige Branko Samarovski, dessen patriotische Kriegsbegeisterung erst mit dem Verlust des eigenen Sohnes zusammenbricht.
Das Ehepaar Schwarz-Gelber bekommt vielleicht etwas viel Raum, den die in Kraus’ Original nüchtern und um so beeindruckender beschriebenen kleinen und großen Greuel des Krieges mehr verdient hätten, der Fokus auf die Versenkung der Lusitania durch ein deutsches U-Boot mit 1.198 Toten (»Auf einem schwimmenden Brett zwei Kinderleichen«) schafft hier allerdings Assoziationen zu den akzeptierten »Kollateralschäden« unserer Tage.
Wurde das Publikum mit Parallelen zur eigenen Wahrnehmung eher verschont, dient die letzte halbe Stunde einem didaktischen Spiel. Der Vorhang öffnet und schließt sich jeweils für eine Person, ein Statement und die Frage: »Was empfinden Sie jetzt?«
»Solange es Schlachthöfe gibt, wird es Schlachtfelder geben«, für Karl Kraus kam der generellen Einteilung in lebenswertes und -unwertes Leben eine Schlüsselrolle im Spiel um das Überleben der Menschheit zu. Während sein »Nörgler« noch die mangelnde Phantasie der Menschen beklagt, die grauenvollen Folgen eines Krieges vorauszuahnen, braucht es die heute nicht mehr, wir wissen, dass die Wahrheit unvorstellbar ist.
»Jeder Schuss ein Russ« heißt es im Stück. – »Russland wird immer unser Feind sein«, so der deutsche Außenminister. Man sei nicht im Krieg, aber man lebe auch nicht mehr im Frieden, heißt es aus der Bundesregierung, laut Generalität ist die NATO kein defensives Verteidigungsbündnis, präzisiert durch den Verteidigungsminister: »Wir müssen bis 2029 kriegstüchtig sein.«
Was empfinden Sie jetzt?
Nächste Aufführungen: 24.11., 13. und 27.12.
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