Was hilft anstelle von Sanktionen?
Interview: Gitta Düperthal
Das 26. Erwerbslosenparlament des Landes Mecklenburg-Vorpommern hat am Montag im Schweriner Landtag mit etwa 100 Teilnehmern getagt. Erinnert das an die Anfänge der Anti-Hartz-IV-Bewegung, die sich dagegen wehrte, dass Erwerbslose als faul abgestempelt wurden?
Ein emotionales Thema der Tagung war, dass aktuell wieder gegen Erwerbslose gehetzt wird und Unwahrheiten über sie verbreitet werden. Als Sozialforscher führe ich Interviews mit Erwerbslosen zu ihren Biographien. Hinter jedem Fall steckt eine Geschichte. Niemand wird erwerbslos, weil er keine Lust auf Arbeit hat. Diese Menschen engagieren sich in Sorgearbeit, übernehmen Aufgaben in Nachbarschaft und Familie, können oft keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, weil sie alleinerziehend sind, sich um kleine Kinder kümmern, gesundheitliche Probleme haben, psychisch krank sind oder nicht über erforderliche Qualifikationen verfügen. Schaut man hin, zerfallen Klischees vom faulen Arbeitslosen zu Staub. Eine Erwerbslose, die im Rostocker Sozialkaufhaus tätig war, berichtete von dessen Schließung. Der Vermieter der Räume hatte Eigenbedarf angemeldet.
Wie spiegelt sich das im Erwerbslosenparlament wider?
Armut findet eher versteckt statt. Wer möchte als Person angesehen werden, die Erwartungen nicht erfüllen kann? Trotzdem gelang es dem Erwerbslosenbeirat in Mecklenburg-Vorpommern seit 26 Jahren, sich in Netzwerken zu organisieren und jährlich eine Tagung zu veranstalten: »Wir sind Teil der Gesellschaft, wollen mit unseren berechtigten Forderungen gehört werden«. Man merkte das am Charakter der Veranstaltung. Zwar gab es Berichte wie den von Sandra Rieck vom offenen Stadtteilzentrum Knieper West in Stralsund, das um Erhalt und Finanzierung kämpfen muss. Insgesamt aber war die Debatte von den Erwerbslosen selber getragen, und zwar sehr konstruktiv. Auch wenn es Widersprüche gab, wurde eine Lösung gefunden. Um seine Arbeit zu reflektieren, will das Erwerbslosenparlament eine Broschüre herausgeben.
Was stellte sich in der Debatte als wichtig heraus?
Die geplanten verschärften Sanktionen der Bundesregierung beim Bürgergeld darf es nicht geben, das knappe Existenzminimum nicht gekürzt werden. Der Umgang mit Erwerbslosen muss auf Vertrauen basieren und auf Augenhöhe geschehen. Erwerbslose wenden sich gegen Druck und Ausgrenzung, wollen Anerkennung, Respekt und Würde in der Gesellschaft erfahren. Sie brauchen Orte der Begegnung. In Städten Mecklenburg-Vorpommerns kristallisiert sich Armut oft auf engem Raum. Da braucht es Beratung und Angebote, um über den eigenen Horizont hinausschauen zu können. In ländlichen Regionen muss es dezentral und gut erreichbare Projekte geben. Das muss finanziert werden.
Wurde während der Sitzung am Montag Mecklenburg-Vorpommerns SPD/Linke-Regierung kritisiert?
Abgeordnete von SPD, Linken und Grünen, obgleich teils sehr empathisch, mussten sich dort einiges anhören. Herausragend aber ist die Selbstorganisation, dass Menschen zusammenkommen, um etwas zu ändern.
Hartz IV führte dazu, dass der größte Niedriglohnsektor Europas entstand. Menschen müssen seither de facto jeden von den Behörden vorgeschlagenen Job annehmen, wenn sie nicht bestraft werden wollen.
Genau. An der Ursache für Erwerbslosigkeit änderte es nichts. Menschen mit Einschränkungen, die nicht in der Lage sind, ihre Post zu öffnen, wird man mit Sanktionen nicht erreichen. Anderen, die unter die Kategorie »Arm trotz Arbeit« fallen, macht man das Beantragen von Hilfen schwer. Weil sie im öffentlichen Diskurs nicht diskreditiert werden möchten, scheuen viele davor zurück.
Wie konnte die Bundesregierung zunächst von einem Kürzungspotential in Höhe von 30 Milliarden Euro beim Bürgergeld sprechen, obwohl sie dann einräumen musste, dass dies nicht der Fall ist?
Mit welcher Dreistigkeit argumentiert wird, bei den Armen ein Sparpotential zu sehen, erschüttert: Bürgerinnen und Bürger stellen ihre Arbeitskraft zur Verfügung, nehmen Entbehrungen in Kauf. Zum Ausgleich garantiert ein Wohlfahrtssystem Unterstützung, wenn etwa jemand aufgrund von Krankheit oder Pflege von Angehörigen ausfällt. Mit dieser Scheindebatte stellt der Staat das Modell unseres Sozialstaates in Frage.
André Knabe ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Rostocker Instituts für Sozialforschung und gesellschaftliche Praxis
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