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Aus: Ausgabe vom 05.11.2025, Seite 3 / Inland
Anschlag von Magdeburg

Was hat das Goldenbaum-Gutachen dazu zu sagen?

Die Analyse zum Motiv des Angriffs auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg darf nicht geheim bleiben, fordert Andreas Henke
Interview: Luca von Ludwig
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Wegen des Migrationshintergrunds des Täters veranstaltete die AfD einen Trauermarsch – ideologisch haben sie indes viele Gemeinsamkeiten

Am 20. Dezember 2024 hatte ein Mann einen Pkw als Waffe für seinen Angriff auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt benutzt. Was hat das Goldenbaum-Gutachten dazu zu sagen?

Es hatte bereits ein forensisch-psychiatrisches Gutachten gegeben, das zu dem Schluss kam, dass bei Taleb A. tatsächlich eine schwerwiegende psychische Störung vorlag, die aber eben nicht der ausschließliche Grund für das Attentat war. Letzteres wurde jetzt durch das neue Gutachten von Hans Goldenbaum wissenschaftlich belegt. Es wurden mehr als 2.000 Onlinebeiträge von A. seit 2016 ausgewertet. Dabei wurde klar herausgearbeitet, wie sich der Anschlag von einer Amoktat abgrenzt, nämlich durch die politische Dimension.

Zu welchem konkreten Ergebnis kommt das Gutachten in dieser Hinsicht?

Im Grunde genommen zu einer ganz klaren Aussage: Die kriminalpolizeiliche Definition für politisch motivierte Straftaten trifft hier zu, und der Anschlag sollte nicht als rein psychologisch motiviert gewertet werden. Laut dem Gutachten sind zum Beispiel 90 Prozent der Twitter-Posts, die Taleb A. seit 2016 abgesetzt hat, eindeutig islamfeindlich. Und es legt auch dar, dass er Teil eines extrem rechten, islamfeindlichen Diskursnetzwerkes war. Man kann von einer politisch motivierten Tat ausgehen. Daher ist die Einschätzung von LKA, BKA und der Generalbundesanwaltschaft zu revidieren. Letztere hatte die Tat als Amokfahrt eingeordnet.

Ihre Partei Die Linke teilt die Einschätzung des Gutachtens?

Ganz ausdrücklich. Deswegen fordern wir die Behörden auf, ihre Auffassung zu korrigieren und die Tat ganz klar als Terroranschlag aufzuarbeiten.

Das Gutachten ist aktuell aber als »geheim« eingestuft, richtig?

Das ist richtig, ja.

Wer hat daran ein Interesse?

Eine gute Frage – die ich aber nicht beantworten kann. Allem voran geht es uns als Fraktion jedoch um die Feststellung der Rechte von Opfern und Angehörigen. Und genau deswegen ist das Gutachten auch als öffentlich einzustufen und nicht geheimzuhalten. Ich denke, das sind wir den Hinterbliebenen und den Opfern schuldig.

Inwiefern berührt das die Rechte von Opfern und Angehörigen?

In erster Linie mit Blick auf die Entschädigungsrechte, die eindeutig festgelegt sind. So steht es auch auf der Internetseite des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales: Anspruch auf Entschädigung hat, wer Opfer einer vorsätzlichen Gewalttat wird und dadurch geschädigt wird. Und das gilt selbstverständlich nicht nur für die Opfer selbst, sondern auch für Hinterbliebene.

Und die Einstufung der Tat als durch psychische Probleme verursachter »Amok« untergräbt diese Rechte?

Offensichtlich. Es sind alles nur »Kann-Regelungen«. Und wenn eine entsprechende Leistung dann ausbleibt, ist es erst einmal eine große Hürde, sie auf gerichtlichem Wege einzuklagen. Das sind teils immense wirtschaftliche, gesundheitliche, finanzielle Folgen, die da entstehen. Es hängt ein ganzes Geflecht von medizinischen und pflegerischen Leistungen, ergänzender Hilfe zum Lebensunterhalt, Leistungen zur Teilhabe bis hin zu Bestattungen, Sterbegeld oder sogar Rentenzahlungen daran. All das wäre nach dem Opferentschädigungsrecht möglich, wenn die Bedingungen klar erfüllt sind.

Denken Sie, dass die Öffentlichkeit hinsichtlich des Anschlags und der Ermittlungen hinreichend aufgeklärt wird?

Im großen und ganzen schon. Der Untersuchungsausschuss tagt zumindest öffentlich, und oft sind auch Gäste da, nicht nur von der Presse. Aber Angelegenheiten wie die Geheimhaltung des neuen Gutachtens laufen dem entgegen.

Sind oder waren deutsche Behörden in der ganzen Angelegenheit »auf dem rechten Auge blind« ?

Vielleicht nicht blind, aber sorglos. Es lief nach dem Motto: Wir haben ihn irgendwie im Blick, und so schlimm wird es schon nicht werden. Das hat sich offensichtlich als falsch erwiesen. Da spielten auch Koordinationsprobleme bei den Behörden eine Rolle. Unmittelbar nach der Tat gab es auch eine schnelle Rasterbildung in der öffentlichen Meinung, weil der Täter einen migrantischen Hintergrund hat. Erst nach und nach drang ins Bewusstsein, dass viele Teile da nicht ins Bild passten.

Andreas Henke ist Sprecher für den Schutz der Zivilbevölkerung der Fraktion Die Linke im Landtag von Sachsen-Anhalt

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