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Aus: Ausgabe vom 11.11.2025, Seite 11 / Feuilleton
Krieg & Frieden

Das große »Nie wieder!«

Ernstfall Frieden: Dem Historiker Wolfram Wette zum 85. Geburtstag
Von Helmut Donat
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Mit Umsicht und Geschick: Wolfram Wette

Seit mehr als 50 Jahren widmet sich der Historiker Wolfram Wette dem Thema Krieg und Frieden. Am 11. November 1940 in Ludwigshafen am Rhein geboren, ist das bedrohliche Geraune der 50er Jahre (»Die Russen kommen!«) auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen. Freiwillig meldete er sich zur Bundeswehr. Die »Russenfurcht«, der unverstandene Zweite Weltkrieg und die Gefahr eines Umschlages des Kalten Krieges in einen heißen beschäftigten den ehemaligen Zeitsoldaten und Hauptmann der Reserve im Studium. Seine von Hans Maier und Nikolaus Lobkowicz betreute Doktorarbeit erschien 1971 als »Beitrag zur Friedensforschung« unter dem Titel »Kriegstheorien deutscher Sozialisten: Marx, Engels, Lassalle, Bernstein, Kautsky, Luxemburg«.

Seither befasst sich Wette mit Ursachen und Rechtfertigungen von Kriegen und den Voraussetzungen des Friedens. Als Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) in Freiburg lieferten sich er und andere 68er wie Manfred Messerschmidt heftige Auseinandersetzungen mit den noch immer von der Nazipropaganda geprägten Kollegen, teils Kriegsteilnehmern. Es ging um den deutsch-sowjetischen Krieg. Ihre Forschungsergebnisse fanden Eingang in die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die, 1995 bis 2004 in vielen deutschen Städten gezeigt, die Legende von der »sauberen Wehrmacht« vollends widerlegte.

Wette ist seit langem der führende kritische Militärhistoriker. Er hat sich, so der Historiker Stig Förster, »große Verdienste erworben um die Entwicklung einer modernen Militärgeschichtsschreibung, die sich gegen allzu militärimmanente und rein fachliche Ansätze wendet.« Zudem widmet er sich der Regional- und Lokalgeschichte. Erst vor wenigen Monaten erschien ein Band über seine Heimatstadt Waldkirch – ein gelungenes Beispiel dafür, wie heute mit der Nazi­vergangenheit umzugehen ist. Darin wendet sich Wette gegen die wachsende Schlussstrichmentalität, zeigt Formen der Schuldabwehr nicht nur in der Provinz und würdigt Anton Schmid, der als Feldwebel im Wilnaer Ghetto Hunderte Juden vor dem Tod bewahrte.

Wette war Sprecher des Arbeitskreises Historische Friedensforschung und Konzilmitglied der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung. Mit einer Fülle an Studien ging er den Traditionslinien des preußischen Militarismus und falschen Weichenstellungen in entscheidenden Phasen deutscher Politik nach. Aufsehen erregte seine Biographie über Gustav Noske, die revisionistischen Historikern im und um das MGFA – weil angeblich der kommunistischen Lesart zu nahe stehend – natürlich nicht in den Kram passte. Obwohl vom Amt in Auftrag gegeben, sollte das Werk nicht den amtlichen Segen erhalten. Doch Wette gelang es mit viel Umsicht und Geschick, seine Gegner ins Leere laufen zu lassen. Das Werk erschien und wurde als Habilitationsschrift anerkannt.

Eine weitere Biographie über den aus Waldkirch stammenden SS-Standartenführer Karl Jäger, verantwortlich für die Ermordung von über 138.000 Juden in Litauen, stieß in seinem Heimatort und in der Region auf starke Ablehnung. Wette wurde angefeindet, erhielt Morddrohungen. Aber auch hier setzte er sich durch, sogar der Sohn Jägers stellte sich auf seine Seite. 2020 verlieh die Stadt Waldkirch Wette die Ehrenbürgerwürde.

Neben der Militärpolitik und der Militärjustiz der Nazis nahm er den Krieg des »kleinen Mannes« in den Blick, beschäftigte sich mit Tätermentalitäten, aber auch mit den »Rettern in Uniform«. Bahnbrechend waren seine Initiativen zur Erforschung von Offizieren, die als »Weiße Raben« ihren militärischen Sachverstand nicht für einen Revanchekrieg einsetzten, sondern dafür, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen dürfe. Der Band »Pazifistische Offiziere« ist in der von Wette und Dieter Riesenberger (1938–2023) herausgegebenen »Schriftenreihe Geschichte & Frieden« erschienen, die inzwischen mehr als 50 Titel umfasst. Als »Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914« publizierte er in der Reihe 2017 das mehr denn je gültige Werk »Ernstfall Frieden«.

Wette stellt sich kontroversen Debatten. So setzt er sich etwa für die Rehabilitierung wegen »Kriegsverrats«, »Wehrkraftzersetzung« und Desertion Verurteilter und Hingerichteter ein. Viele Jahre lang stand er, die Arbeit Ludwig Baumanns fördernd, dem Wissenschaftlichen Beirat der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz vor. Von 1988 bis 2005 war Wette außerplanmäßiger Professor an der Universität Freiburg, er lehrte auch in Basel, Bern und Luzern. Nach wie vor streitet er gegen Auslandseinsätze, gegen extreme Rechte und Antisemitismus in der Bundeswehr, gegen Waffenexporte und Militäreinsätze im Innern, gegen Rüstungen und Militarisierung.

Insbesondere spricht er sich für die deutsch-russische Verständigung aus. Auch der Ukraine-Krieg war, so seine Einsicht, vermeidbar – wenn man es denn in Ost wie West gewollt hätte. Wette warnt davor, die Bevölkerung weiter in eine kriegerische Stimmung zu hetzen. Er wird nichts unversucht lassen, ihr die Augen zu öffnen.

Auch durch seine ruhige, sachliche, integre und verbindliche Art hat sich Wette viel Wertschätzung erworben. Wir sagen »Danke!« und wünschen: Gesund bleiben – und weitermachen!

Im Donat-Verlag sind erschienen:

– Wolfram Wette: Ernstfall Frieden – Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914. Bremen 2017, 640 Seiten, 24,80 Euro

– Ders. (Hrsg.): »Hier war doch nichts!« sagt in Waldkirch niemand mehr – ODER DOCH? Höhen und Tiefen lokaler Erinnerungsarbeit. Bremen 2025, 416 Seiten, 29,80 Euro

– Helmut Donat/Reinhold Lütgemeier-Davin (Hrsg.): Geschichte und Frieden in Deutschland 1870–2020. Eine Würdigung des Werkes von Wolfram Wette. Bremen 2024, 880 Seiten, 48 Euro

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