Tage des nuklearen Massenmordes
Von Rudolf Stumberger
Es ist Montag, der 6. August 1945, als morgens um 8.15 Uhr die Boeing B-29 »Superfortress« der US-amerikanischen Luftwaffe die Bombe in 9.500 Metern Höhe ausklinkt. Während das Flugzeug mit seiner zwölfköpfigen Besatzung abdreht, explodiert Sekunden später die erste Atombombe der Geschichte, die als Massenvernichtungswaffe eingesetzt wurde. Die Detonation ereignet sich in rund 600 Metern Höhe über der japanischen Stadt Hiroshima, ganz im Westen der Hauptinsel Honshu. Die Atombombe tötet durch ihre Druckwelle und die Hitzestrahlung sofort an die 70.000 bis 80.000 Menschen: Kinder und Alte, Männer und Frauen, Japaner und koreanische Kriegsgefangene, Verletzte in den Krankenhäusern. Auch deutsche Priester und US-amerikanische Kriegsgefangene sind unter den Toten. Im Laufe der Jahre erhöht sich die Zahl der Opfer durch die Wirkung der radioaktiven Strahlung, die zum Beispiel Leukämie verursacht.
Hiroshima im Mai 2025. Dieses Jahr gedenkt die Stadt anlässlich des 80. Jahrestags des Massenmordes an Zivilisten der Opfer. Ich bin unterwegs im Zentrum der Stadt, das seinerzeit völlig ausgelöscht wurde. Die in den japanischen Städten üblichen Holzhäuser wurden von der Druckwelle hinweggefegt, dann kam die Feuerwalze. Stehengeblieben sind nur einige wenige Gebäude aus Stein. Wie die ehemalige Stadthalle, die 1915 fertiggestellt worden war. Das Explosionszentrum der Bombe lag 160 Meter östlich, die Menschen innerhalb des Gebäudes waren sofort tot. Im September 1996 wurde die Ruine in das Weltkulturerbe der Menschheit durch die UNESCO aufgenommen, als Erinnerung an den Horror der Bombe und als Mahnung für den Frieden. Überhaupt, Frieden – die ganze Stadt ist ein einziger Appell gegen den Krieg: der Friedenspark anstelle des ehemaligen Stadtzentrums; die dortige Flamme als Mahnmal, die erst gelöscht werden soll, wenn die letzte Atomwaffe zerstört ist; das Museum mit den Exponaten der Vernichtung wie geschmolzenem Glas und verbrannten Schuluniformen; das Kinderdenkmal mit den Kranichen aus Papier; die »Nationale Gedenkhalle für die Atombombenopfer«.
Frieden. Es ist schon am Abend, als ich vom Friedenspark zurück ins Hotel gehe. Als ich in die Nähe der Stadthallenruine komme, höre ich ein lautes Skandieren. Als ich näherkomme, sehe ich einen großgewachsenen Mann, kein Japaner, der in ein Mikrophon spricht: »From the River to the Sea, Palestine Will Be Free.« Es ist eine Kundgebung zum Krieg in Gaza, »Free Palestine« ist auf einem Transparent hinter ihm zu lesen. Rechts verteilt eine kleine Gruppe Japaner Flugblätter.
Am nächsten Morgen regnet es leicht. Vor 80 Jahren ging kurz nach der Explosion schwarzer Regen (»Kuroi Ame«) nieder, der radioaktive Teilchen, Asche und verbrannte Materialien enthielt. Ich bin auf dem Weg zur Burg von Hiroshima, sie ist ein Nachbau aus Beton. In der Nähe der Aioi-Brücke begegnet mir ein Demonstrationszug mit ein paar Dutzend Teilnehmern, sie tragen wehende Fahnen mit Parolen. Ein Polizeitrupp in hellblauer Uniform und ein paar Männer in Zivil sind auch da. Die Demonstration wird auf eine Fahrspur der Straße verwiesen, es geht alles sehr geordnet und gesittet zu. Ich versuche mit einer jüngeren Frau unter den Teilnehmern zu reden, aber das klappt wegen Sprachschwierigkeiten nicht wirklich. Aus einem Flugblatt, das ich in die Hand gedrückt bekomme, erfahre ich, dass es sich um die Gruppe »86 Hiroshima Daikoudo« handelt. Über die angegebene E-Mail-Adresse frage ich nach, was das für eine Vereinigung ist. Ich bekomme eine Antwort. 30 Mitglieder habe die lokale Gruppe, die einen »antiimperialistischen« Standpunkt einnehme und sich gegen den Krieg in Gaza wende. Außerdem kritisiere sie den »Aufmarsch der Truppen der USA und Japans gegen die Volksrepublik China«.
Im Verborgenen
Ich halte einen Stadtplan von Hiroshima in der Hand, darauf sind die historischen Orte eingezeichnet. Beim Studieren der Karte stoße ich auf eine »Erinnerungsplakette für US-Soldaten«. Ich rätsele, was das sein kann. Haben sich da US-amerikanische Militärangehörige für den Massenmord an Zivilisten entschuldigt? Ich suche die Plakette an dem eingezeichneten Ort, doch dort, mitten in der Haupteinkaufsstraße Hondori, ist sie nicht zu sehen, so sehr ich mich auch umschaue. Am nächsten Tag mache ich einen neuen Anlauf im örtlichen Tourismusbüro, und der freundliche Herr dort findet für mich tatsächlich den richtigen Standort heraus: Die Plakette hängt an einem Gebäude, wo sich 1945 das Hauptquartier der Militärpolizei von Hiroshima befand. Und sie erinnert an zwölf US-Soldaten, die hier als Kriegsgefangene inhaftiert waren.

Es handelte sich um Flugzeugbesatzungen, die über dem nahen Kriegshafen Kure abgeschossen worden waren. Jahrzehntelang war das Schicksal dieser US-Soldaten ungeklärt, sie galten offiziell als vermisst. Die US-Regierung hatte wenig Interesse daran, der Öffentlichkeit mitzuteilen, dass beim Abwurf der ersten Atombombe über einer Stadt in der Geschichte der Menschheit auch eigene Leute getötet worden waren. Erst vor wenigen Jahren tauchte ein Dokument vom 20. Dezember 1948 auf, das Teil einer Untersuchung von japanischen Kriegsverbrechen war. Darin verneinte das US-Militär, dass die zwölf Soldaten Opfer von Greueltaten geworden waren, es wurde keine Strafverfolgung eingeleitet. Im Umkehrschluss hieß das, dass sie Opfer der Bombe wurden. 1983 räumte das US-Militär in der Antwort auf eine Anfrage eines Historikers zum ersten Mal ein, dass die zwölf tot sind. 2008 erschien das Buch des japanischen Historikers Shigeaki Mori mit dem Titel: »Die geheime Geschichte der amerikanischen Kriegsgefangenen, die durch die Atombombe getötet wurden«.
Geschichte ist ein ziemlich kompliziertes Ding, und das mit der Wahrheit ist auch nicht so einfach. Die Probleme liegen eher nicht bei den Fakten – niemand bestreitet, dass die Atombombe am 6. August über der Großstadt explodierte. Aber es geht um die Interpretation der Fakten. Zum Beispiel bei der Frage, welche Gründe die US-Regierung veranlassten, Atombomben über Japan abzuwerfen.
Dazu gibt es eine offizielle Version, die sich in vielen Geschichtsbüchern findet, und sie lautet so: Das US-Militär hatte für Herbst 1945 die Invasion der Hauptinseln Japans geplant. Dabei wären eine halbe bis eine Million US-Soldaten getötet worden. Diese Leben seien durch den Abwurf der Bomben und die anschließende Kapitulation Japans »gerettet« worden. Interessant ist, dass derartige Aussagen zu den Opferzahlen erst in der Nachkriegszeit gemacht wurden. So sprach der ehemalige Kriegsminister Henry L. Stimson im Februar 1947 in einem Artikel für das US-Magazin Harper’s von mehr als einer Million Opfern (Tote und Verwundete), 1953 war es bei Großbritanniens Premierminister Winston Churchill dann die Zahl von einer Million Toten, die in den Memoiren von Ex-US-Präsident Harry Truman 1955 auf 500.000 Tote fiel. Am 9. August 1945, dem Tag, als die Bombe auf Nagasaki fiel, hatte Truman noch gesagt, er habe die Atombomben angeordnet, um das Leben »Tausender und Abertausender« junger Amerikaner zu retten.
Propaganda mit Zahlen
In der Tat waren die Verluste der US-Truppen im Kampf gegen die Japaner beim sogenannten Inselhüpfen sehr groß, bei der Eroberung von Luzon (Philippinen), Iwo Jima und Okinawa waren sie die höchsten des ganzen Krieges im Pazifik. Die japanischen Soldaten hatten sich in Höhlen verschanzt, schlugen aus den Verstecken heraus überraschend zu und kämpften bis zum bitteren Ende. Hinzu kamen die Angriffe der Kamikazeflieger auf die Invasionsflotte.
Bei der geplanten Invasion der japanischen Hauptinsel Kyushu am 1. November 1945 (»Operation Olympic«) erwartete man ebenfalls entschlossenen Widerstand und den Einsatz von Suizidkommandos in Flugzeugen, Schiffen und Kleinst-U-Booten. Sollte »Olympic« nicht zur Kapitulation Japans führen, war für den 1. März 1946 die Operation »Coronet« geplant: die Invasion der Kanton-Ebene, um mit Tokio das industrielle und politische Zentrum zu erobern.

Gleichwohl gingen die militärischen Planer von Verlusten aus (getötete und verwundete US-Soldaten), die meilenweit unter den von Stimson, Churchill und Truman nach dem Krieg genannten Zahlen lagen. So rechnete der Stab von General Douglas MacArthur, dem Oberbefehlshaber im Pazifik, mit 31.000 Toten, sollte »Olympic« sich bis zum 1. März 1946 hinziehen. Derartige Verlustzahlen entsprachen den Erfahrungen der Landungen auf Okinawa und in der Normandie. Deutlich wird so, dass die völlig überhöhten Opferzahlen in bezug auf eine Invasion Japans, wie sie nach dem Krieg präsentiert wurden, der Rechtfertigung der Atombomben dienten.
Aber wäre eine derartige Invasion überhaupt notwendig gewesen? In den 1960er und 1970er Jahren (also zur Zeit des Vietnamkrieges) kamen Historiker zu anderen Schlüssen. Einen radikalen Standpunkt nahm dabei Gar Alperovitz ein, um ihn 1995 mit der Veröffentlichung von »Hiroshima – die Entscheidung für den Abwurf der Bombe« (im Originaltitel ist zudem von der »Architektur eines amerikanischen Mythos« die Rede) zu bekräftigen. Seiner Lesart nach hätte Japan auch ohne den Abwurf der Atombomben bald kapituliert. Denn im Frühjahr 1945 sei es bereits militärisch besiegt gewesen. Die riesigen B-29-Bomberflotten, die von Okinawa und Saipan aus starteten, hatten bereits den Großteil der japanischen Städte mit ihren Industrieanlagen in Schutt und Asche gelegt, das Bomberkommando hatte Probleme, überhaupt noch lohnende Ziele auszumachen. Die Lufthoheit war längst an die US-Amerikaner übergegangen.
Und auch auf dem Wasser hatte Japan nichts mehr zu sagen, ein Großteil der Schlachtschiffe und Flugzeugträger war versenkt oder lag ohne Treibstoff versteckt hinter Inseln. US-amerikanische U-Boote hatten zudem der Handelsflotte den Garaus gemacht, die Luft- und Seeblockade schnitt die japanische Industrie, soweit noch vorhanden, von den dringend benötigten Rohstoffen ab. Alperovitz stellt darauf ab, dass den Japanern ihre Lage längst klar war, und verweist auf geheimpolitische Aktivitäten zur Beendigung des Krieges. Das größte Hindernis dabei sieht er in der Forderung der US-Regierung nach einer »bedingungslosen Kapitulation«. Was bedeutete, dass das Schicksal des japanischen Kaisers, der wie ein gottähnliches Wesen verehrt wurde, auch mit einer Verurteilung als Kriegsverbrecher und einer Hinrichtung hätte besiegelt werden können. Für Japan eine unannehmbare Forderung.
Als wesentlich sieht Alperovitz auch die Kriegserklärung der Sowjetunion an Japan am 8. August 1945 an. Stalin hatte nach dem Sieg über Hitlerdeutschland den Neutralitätspakt mit Japan aufgekündigt. Nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in der Mandschurei sei der japanischen Regierung klar gewesen, dass der Krieg endgültig verloren war. Das Fazit des Historikers: Die Kapitulation Japans sei nur noch eine Frage der Zeit gewesen, eine Invasion wäre nicht geschehen. Und die Atombomben? Deren Abwurf sieht Alperovitz nicht in Zusammenhang mit der Kapitulation Japans, sondern als Zeichen, das an die Sowjetunion gerichtet war, deren Rolle im Europa der Nachkriegszeit eingegrenzt werden sollte.
Während die Historiker sich bei der Beurteilung der Zahl an möglichen Opfern einer Invasion eher angleichen, gibt es in der Zunft der Historiker ein breites Spektrum von Befunden über die Ursachen der Atombombenabwürfe. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges war es nicht selten, dass kritische Forscher als »unpatriotisch« beschimpft wurden. Auch Geschichtsschreibung ist Teil der politischen Auseinandersetzungen und sozialen Kämpfe.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (6. August 2025 um 12:00 Uhr)Es scheint ein unglaubliches Zeugnis menschlicher Dummheit zu sein, dass 80 Jahre nach dem »Was haben wir getan?« die sich sowohl die Zahl der Länder mit nachgewiesenen oder mutmaßlichen Atomwaffenarsenalen als auch die große Zahl der Aspiranten vervielfacht haben. 80 Jahre nach Hiroshima sind wir entmutigt durch Kriege am Rande einer nuklearen Katastrophe. Unglückselige Politiker schwingen bedrohlich mit diesen Waffen, als wären es Juwelen, die zu lange im Safe aufbewahrt wurden. Sie setzen U-Boote und Raketen ein, um zu zeigen, dass die Nicht-Waffe wieder zu einer Waffe geworden ist.
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