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Aus: Ausgabe vom 10.11.2025, Seite 5 / Inland
Gesundheitspolitik

Der gesteuerte Patient

Ärztevereinigung Virchowbund fordert durchdigitalisiertes »Primärversorgungssystem« – inklusive Eigenbeteiligung und Sanktionsmöglichkeiten
Von Oliver Rast
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Wartezimmer ade. Die Versorgung beginnt künftig zu Hause, mittels KI-gesteuerter App

Montag morgen, zehn vor acht Uhr. Nur noch wenige Minuten bis zur Öffnung. Vor der Milchglastür der Hausarztpraxis hat sich an diesem trüb-nassen Novembertag bereits eine lange Schlange gebildet. Ältere Frauen mit Rollatoren, ein Vater mit hustendem Kind auf dem Arm, eine Teenagerin mit fiebrigem Blick, zwei Männer in Arbeitsklamotten, die in ihrer Firma anrufen.

Hinter der Tür summt der Drucker, klingelt das Telefon, checken medizinische Fachangestellte (MFA) – die früheren Arzt- und Sprechstundenhelferinnen und -helfer – die Lage für den Arbeitsablauf an diesem Morgen. Punkt acht Uhr, eine MFA in mintgrünem Kasack entsperrt den Türriegel – und lässt die Patienten einzeln vor zum Portal. Praxisalltag.

Eine Werktagsroutine, die es so nicht mehr geben soll. Findet jedenfalls Dirk Heinrich. Der Bundesvorsitzende des Virchowbundes präsentierte am Freitag im Impulsreferat seinen »Masterplan Patientensteuerung«. Auf der Bundeshauptversammlung des kleinen, aber stimmgewaltigen Verbands niedergelassener Haus- und Fachärzte in einem Viersternehotel in Berlins Mitte. Schlag- und Reizwörter fallen vor den rund 120 Verbandsmitgliedern, immer wieder ruft Heinrich die Losung aus: »Digital neu denken statt Analoges digitalisieren.« Oder: »Digital vor ambulant und vor stationär.« Wie soll das gehen?

So halt: Die Versorgung beginnt künftig zu Hause, auf dem Sofa. Mit einem Smartphone in der Hand, mittels KI-gesteuerter App – und dank elektronischer Patientenakte (ePA), in der die Krankengeschichte samt Befunden gespeichert und abrufbar ist. Heinrich illustriert seinen Plan anhand mehrerer Fallbeispiele, projiziert diese auf die Leinwand im Konferenzsaal des Hotels. Eines davon: 70jähriger Diabetiker mit Herzinsuffizienz und grünem Star, der zudem frisch an der Hüfte operiert wurde, klagt über Atemnot. Ad hoc greift er zum Handy – und wählt die »116 117«, die Servicehotline des Bereitschaftsdienstes für gesetzlich Versicherte. Der Anrufer in Not schildert seine Symptome. Die Computerstimme am anderen Ende der Leitung übernimmt »die digitale Ersteinschätzung«, so der Virchowbund-Chef – und übermittelt einen Termin zum Hausarzt, der künftig alles weitere koordiniert. Deshalb spricht Heinrich auch vom »Koordinationsarztmodell«.

Nur, warum das alles? Weil das analoge System dem Vertreter der Ärzteschaft zufolge nicht mehr leistbar ist, weil Patienten die Praxen »fluten«, weil zahlreiche Arztbesuche medizinisch nicht notwendig sind. Der Vorwurf: »Ärztehopping« wegen Bagatellen. Und nicht zuletzt muss mit der »Ressource Hausarzt« sorgsam umgegangen werden. Das Gros der Haus- und Fachärzte ist überaltert, viele gehen in den kommenden Jahren in den Ruhestand. Die Folge: Die Versorgungsdichte nimmt ab, besonders im ländlichen Raum. Fazit: Erstkontakte in Praxen müssen drastisch reduziert werden, fordert Heinrich.

Zwei Instrumente sollen dabei helfen: eine »generelle Eigenbeteiligung« und »Sanktionsmöglichkeiten«, so der Bundesvorsitzende weiter. Welche Zusatzkosten sollen Patienten tragen, will der Autor auf Nachfrage wissen. Heinrich: »Zu einer vernünftigen Patientensteuerung gehört auch eine Art Praxisgebühr.« Und wenn Patienten weiterhin auf »freie Arztwahl« bestünden, würde das für jene teurer, gebe es einen »Wahltarif«. Die jeweilige Höhe könne er aber noch nicht benennen. Und was ist mit den Sanktionen? In jedem Falle brauche es, »eine Ausfallgebühr bei der Nichtabsage von Terminen«. Da alsbald das Gesundheitswesen durchdigitalisiert sein soll, erfolgten Abbuchungen der »Strafzahlungen« per Paypal oder Kreditkarte automatisch. Kurzum, es müssten Anreize für Patienten geschaffen werden, dem »Koordinationsarztmodell« zu folgen – notfalls mit einem »leichten Tritt in den Hintern«.

Das Gute: Der »Masterplan Patientensteuerung« vom Virchowbund ist zuvorderst ein Planspiel. »Eine Vision«, wie selbst Heinrich einräumt. Und wir wissen ja, wohin uns der Weg in einem solchen Falle führen sollte: in die Warteschlange vor die Arztpraxis.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (10. November 2025 um 09:30 Uhr)
    Liebe Ärzte, und Vertreter der Ärzteschaft, bei allen technischen Visionen und organisatorischen Plänen darf eines nicht übersehen werden: Im Mittelpunkt steht der Mensch – und häufig ein kranker, älterer, hilfsbedürftiger Mensch. Was Herr Dirk Heinrich, der Vorsitzende des Virchowbunds, als Zukunftsmodell skizziert, wirkt weniger wie ein patientenzentriertes Versorgungssystem, sondern vielmehr wie ein digital gesteuertes Krankenlager, in dem Patientinnen und Patienten nach den Vorgaben von IT-Programmen und wirtschaftlichen Zielvorgaben »verwaltet« und »behandelt« werden. Wenn Behandlungsprioritäten zunehmend durch Algorithmen, Vergütungsmodelle oder Effizienzkennzahlen bestimmt werden, gerät die menschliche Zuwendung in den Hintergrund. Ärzte laufen Gefahr, nicht mehr in erster Linie Heiler zu sein, sondern Funktionsstellen in einem automatisierten System. Schon heute sind viele Patientinnen und Patienten mit endlosen nervlichen Telefonwarteschleifen und organisatorischen Hürden überfordert. Wenn künftig digitale Hürden und automatische Sanktionen hinzukommen, könnte das für manche – gerade ältere oder schwerkranke Menschen – nicht nur belastend, sondern lebensgefährlich, sogar tödlich werden. Digitalisierung darf die Medizin unterstützen, aber sie darf sie nicht entmenschlichen. Ein Gesundheitswesen, das Patienten steuert, statt ihnen zu dienen, verliert seinen eigentlichen Sinn.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (10. November 2025 um 14:14 Uhr)
      Lieber Istvan, ganz nüchtern betrachtet war das mit dem Menschen im Mittelpunkt vielleicht früher mal. Heute steht im Mittelpunkt längst der Profit. Der Mensch steht am Rande. Er liefert nur noch den notwendigen Input, damit die Knete fließt.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (9. November 2025 um 22:17 Uhr)
    Verträgt er es, ist es gut für ihn, verträgt er es nicht, dann ist er hin. Diesen Spruch, von meinem Vater in oberfränkischer Mundart überliefert, habe ich häufig zu hören bekommen (naja, etwas traditionell paraphrasiert zu »Was uns nicht tötet, macht uns nur hart«). Allerdings haben meine Eltern nicht herumgedoktert, sondern recht gut über Symptome und Hausmittel bescheid gewusst und sie sachgemäß angewendet. Wenn man krank war, war man krank (und nicht teilkrankgeschrieben) und hat sich auskuriert, meistens mit Bettruhe, ggf. vom Halbgott in Weiß verordnet. Jetzt rächen sich die ehemaligen Halbgötter für den Sturz vom göttlichen Thron mit den Mitteln des Marktes. Regelbasierte Expertensysteme standen mit am Anfang der KI. Warum also kein Public-domain-AI-System für jeden, wie Linux? Wenn das Teil die Flügel streckt, kannst du immer noch zum Doktor gehen. Wenn ich mir so anschaue, was an Büchern im Umkreis der Medizin (vom Anatomie-Atlas über Bittere Pillen bis zum Tschyrembel und »Zahnweh? Doktor Eisenbarth hilft«) in meinem Regal steht, wage ich zu behaupten, die Anregungen des Expertensystems interpretieren zu können und notfalls einen Arzttermin zu beantragen (mache ich jetzt schon, ohne KI, weil ich mir kein Rezept ausstellen darf). Eine auf diese Art durchdigitalisierte Primärversorgung kann ich mir gut vorstellen und würde ich begrüßen. Halbgötter in Weiß: Ab in den Orkus!
  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (9. November 2025 um 20:53 Uhr)
    Medizin könnte so schön sein, wenn es den nervigen, jämmerlichen und anspruchsvollen Patienten nicht gäbe. Und: Gegen perverse Phantasien ist auch ein Arzt nicht nachhaltig immun.

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