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Aus: Ausgabe vom 10.11.2025, Seite 3 / Inland
Behindertenrechte bei Triage

Warum sind Sie mit dem Gesetz nicht zufrieden?

Karlsruher Urteil zu Triage-Regelungen sorgt bei Menschen mit Behinderung für Verunsicherung, sagt Hans-Günter Heiden
Interview: Gitta Düperthal
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Es geht um die Belange oder gar ums Überleben von Menschen mit Behinderungen, wenn sie ärztliche Intensivbehandlung benötigen: Das Bundesverfassungsgericht forderte mit seinem Triage-Beschluss am vergangenen Dienstag die Bundesländer auf, Regelungen zu erlassen. Begrüßen Sie die Entscheidung?

Wir sind erleichtert, dass das Verfassungsgericht am 4. November nur aus formalen Gründen geurteilt und nicht etwa der Beschwerde der Ärztinnen und Ärzte recht gegeben hat. Nicht hilfreich finden wir aber, dass somit ein bestehendes Schutzniveau für Menschen mit Behinderungen aufgehoben wurde. Denn es gab ja ein Bundesgesetz, das Regelungen der Nichtdiskriminierung und ein Verbot der »Ex-Post-Triage« vorsah.

Weshalb ist es dem »Runden Tisch Triage«, einem Zusammenschluss von Organisationen aus der Behindertenarbeit, wichtig, dass diese Form der Triage weiterhin verboten bleibt?

Angenommen, in einer Intensivstation mit Betten für fünf Personen kommt eine sechste hinzu. Dann könnten Ärzte entscheiden: Weil die neu hinzugekommene Person vermeintlich bessere Überlebenschancen hat, nehme ich einer der vorherigen die bereits begonnene Intensivbehandlung weg. Für diese könnte das den Tod bedeuten. Dabei hätte etwa ein Mensch mit einer Muskelerkrankung mit einem geringeren Atemvolumen von nur 30 Prozent vielleicht dieselbe Überlebenschance, die niemand sicher voraussagen kann. Deshalb sind willkürliche Eingriffe verboten, weil sie gegen Artikel 2 des Grundgesetzes verstoßen – »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit« – und gegen Artikel 3, die Gleichheit vor dem Gesetz.

Mit dem bis dato bestehenden Gesetz waren Sie aber auch nicht wirklich zufrieden – warum?

Danach hätten im Fall einer Priorisierung bei knappen Ressourcen auch »Komorbiditäten« (Nebenerkrankungen, jW) berücksichtigt werden können: wenn sie die kurzfristige Überlebenschance bei der aktuell anstehenden Behandlung erheblich senken. Häufig haben Personen mit Behinderungen weitere Einschränkungen. So besteht die Gefahr, dass Ärzte etwa nach unbewussten Vorurteilen entscheiden könnten: Ist es eine junge Mutter mit drei Kindern oder ein Mensch mit Behinderungen? Entscheidungskriterium darf aber keinesfalls sein: »Welches Leben ist mehr wert?«

Die aktuell ungeklärte Situation bringt erhebliche Unsicherheit für Menschen mit Behinderung mit sich, oder?

Allerdings, denn es gibt gar keine Regelungen. Wichtig ist aber: Entscheidungen über die Zuteilung einer Behandlung dürfen nicht aufgrund von Behinderung, Alter, mittel- oder langfristiger Lebenserwartung, Gebrechlichkeit oder Lebensqualität getroffen werden. Weil behinderte Menschen 2020 noch erleben mussten, dass »Gebrechlichkeitskriterien« angewandt wurden, hatten sie das Bundesverfassungsgericht angerufen und 2021 recht bekommen. Der Bundesgesetzgeber regelte daraufhin in Paragraph 5 c des Infektionsschutzgesetzes, dass bei nicht ausreichend vorhandenen intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten niemand benachteiligt werden darf. Es muss diskriminierungsfrei zugehen.

Nach welchen Kriterien sollten neue Regelungen geschaffen werden?

Die müssen sich bundeseinheitlich an den Menschenrechten und der UN-Behindertenrechtskonvention orientieren und diskriminierungsfrei sein.

Die Bundesländer könnten dies unterschiedlich regeln. Das Überleben eines Menschen dürfe aber nicht vom Wohnort abhängen, meinen Beauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderungen.

Menschen, die im Süden der Republik wohnen, dürfen nicht anders behandelt werden, als die, die im Norden leben. Bedenken Sie nur den Fall: Nach einer der nächsten Landtagswahlen könnte eine rechtspopulistische Partei mitregieren und dann Regelungen zum Nachteil von bestimmten Gruppen beschließen!

Das Gericht hat eine einheitliche Regelung der Länder angemahnt. Senioren- oder Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderung gilt es einzubeziehen. Dass einzig Ärztinnen und Ärzte mitbestimmen, die sich auf ihre Berufsfreiheit beziehen, darf nicht sein.

Hans-Günter Heiden ist aktiv beim »Runden Tisch Triage«

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