Schauplatz Weltbühne
Die Hoffnung auf eine friedliche Entwicklung der Kapitalakkumulation, auf den »Handel und Gewerbe, die nur bei Frieden gedeihen«, die ganze offiziöse manchesterliche Ideologie der Interessenharmonie zwischen den Handelsnationen der Welt – die andere Seite der Interessenharmonie zwischen Kapital und Arbeit – stammt aus der Sturm-und-Drang-Periode der klassischen Nationalökonomie und schien eine praktische Bestätigung zu finden in der kurzen Freihandelsära in Europa in den 60er und 70er Jahren (des 19. Jahrhunderts, jW). Sie hat zur Grundlage das falsche Dogma der englischen Freihandelsschule, als sei der Warenaustausch die einzige Voraussetzung und Bedingung der Kapitalakkumulation, als sei diese mit der Warenwirtschaft identisch. (…)
Dieses Evangelium war nie der wirkliche Ausdruck der Interessen der Kapitalakkumulation im ganzen. In England selbst wurde es schon in den 40er Jahren durch die Opiumkriege Lügen gestraft, die mit Kanonendonner die Interessenharmonie der Handelsnationen in Ostasien proklamierten, um mit der Annexion von Hongkong in das Gegenteil, in das System der »Interessensphären« umzuschlagen. (Fußnote Rosa Luxemburgs: Und nicht nur in England. »Schon 1859 hatte eine durch ganz Deutschland verbreitete Flugschrift, als deren Verfasser man den Fabrikanten Diergardt aus Viersen bezeichnete, die eindringliche Mahnung an Deutschland gerichtet, sich des ostasiatischen Marktes rechtzeitig zu versichern. Es gab nur ein Mittel, um den Japanern, überhaupt den Ostasiaten gegenüber handelspolitisch etwas zu erreichen, das ist militärische Machtentfaltung. […]« [Walther Lotz: Die Ideen der deutschen Handelspolitik von 1860 bis 1891. Berlin 1892, S. 80])
Auf dem europäischen Kontinent war der Freihandel der 60er Jahre schon aus dem Grunde kein Ausdruck der Interessen des industriellen Kapitals, weil die führenden Freihandelsländer des Kontinents in jener Zeit noch vorwiegend agrarische Länder, ihre Großindustrie noch verhältnismäßig schwach entwickelt war. Das Freihandelssystem wurde vielmehr als Maßnahme der politischen Konstituierung der mitteleuropäischen Staaten durchgesetzt. In Deutschland war es in der Manteuffelschen und Bismarckschen Politik ein spezifisch preußisches Mittel, Österreich aus dem Bund und dem Zollverein herauszudrängen und das neue Deutsche Reich unter Preußens Führung zu konstituieren. (…)
Als die Freihandelsära anhub, wurde Ostasien erst durch die Chinakriege erschlossen, in Ägypten stellte das europäische Kapital die ersten Schritte. In den 80er Jahren setzt parallel mit dem Schutzzoll die Expansionspolitik mit zunehmender Energie ein: Die Okkupation Ägyptens durch England, die deutschen Kolonialeroberungen in Afrika, die französische Okkupation von Tunis und die Expedition nach Tonking, die Vorstöße Italiens in Assab und Massaua, der abessinische Krieg und die Bildung Eritreas, die englischen Eroberungen in Südafrika – alle diese Schritte folgten sich in einer ununterbrochenen Kette die 80er Jahre hindurch. (….)
Die kapitalistische Akkumulation hat somit als Ganzes, als konkreter geschichtlicher Prozess, zwei verschiedene Seiten. Die eine vollzieht sich in der Produktionsstätte des Mehrwerts – in der Fabrik, im Bergwerk, auf dem landwirtschaftlichen Gut – und auf dem Warenmarkt. Die Akkumulation ist, von dieser Seite allein betrachtet, ein rein ökonomischer Prozess, dessen wichtigste Phase zwischen dem Kapitalisten und dem Lohnarbeiter sich abspielt, der sich aber in beiden Phasen: im Fabrikraum wie auf dem Markt, ausschließlich in den Schranken des Warenaustausches, des Austausches von Äquivalenten bewegt. Friede, Eigentum und Gleichheit herrschen hier als Form, und es bedurfte der scharfen Dialektik einer wissenschaftlichen Analyse, um zu enthüllen, wie bei der Akkumulation Eigentumsrecht in Aneignung fremden Eigentums, Warenaustausch in Ausbeutung, Gleichheit in Klassenherrschaft umschlagen.
Die andere Seite der Kapitalakkumulation vollzieht sich zwischen dem Kapital und nichtkapitalistischen Produktionsformen. Ihr Schauplatz ist die Weltbühne. Hier herrschen als Methoden Kolonialpolitik, internationales Anleihesystem, Politik der Interessensphären, Kriege. Hier treten ganz unverhüllt und offen Gewalt, Betrug, Bedrückung, Plünderung zutage, und es kostet Mühe, unter diesem Wust der politischen Gewaltakte und Kraftproben die strengen Gesetze des ökonomischen Prozesses aufzufinden.
Die bürgerlich-liberale Theorie fasst nur die eine Seite: die Domäne des »friedlichen Wettbewerbs«, der technischen Wunderwerke und des reinen Warenhandels, ins Auge, um die andere Seite, das Gebiet der geräuschvollen Gewaltstreiche des Kapitals, als mehr oder minder zufällige Äußerungen der »auswärtigen Politik« von der ökonomischen Domäne des Kapitals zu trennen.
Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus. Berlin 1913. Hier zitiert nach: Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Band 5. Dietz-Verlag, Berlin 1974, Seiten 392–397
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