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Aus: Ausgabe vom 08.11.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kunst

Von vorn beginnen

Das Jüdische Museum Berlin zeigt eindrucksvolle Werke deutsch-jüdischer Designerinnen
Von Sabine Lueken
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Modefotografie von Yva: »Eleganter Hut aus schwarzem Samt mit weißem Vogel, Design: Paula Schwarz«

Leserinnen von Erich Mühsams Tagebüchern kennen Lotte Pritzel, das »Puma«, wie er sie nannte, als eine seiner Freundinnen. Am 12. September 1910 notierte er über die 23jährige aus der Münchner Boheme: »Das süße Puma! […] Alle meine Ideale und Theorien von Weib und Freiheit sind in ihr lebendig.« Sein Ton verrät, wie sehr sie ihre Umgebung beeindruckte. Einige Jahre später begann ihr kometenhafter Aufstieg mit den »Pritzel-Puppen«. In einem kurzen Film von 1923 kann man sie sogar bei der Arbeit in ihrem Atelier sehen.

Pritzel ist Teil einer Geschichte deutsch-jüdischer Designerinnen, die heute weitgehend vergessen sind – mehr als 400 Werke dieser Frauen zeigt die Schau im Jüdischen Museum Berlin. Die Kuratorin Michal S. Friedlander hat sie in 20 Jahren zusammengetragen und die Lebenswege ihrer Schöpferinnen rekonstruiert. Dafür war sie in England, Israel und den USA unterwegs, durchforstete Firmenarchive, Flohmärkte und Onlineauktionen – sogar bei Ebay wurde sie fündig.

Warum gerieten diese Frauen in Vergessenheit? Friedlander verweist neben der bis heute spürbaren Geringschätzung weiblicher Kunstproduktion und der Abwertung angewandter Künste vor allem auf antisemitische Diskriminierung. 1933 markiert eine Zäsur: Ausgrenzung, Berufsverbote, Verfolgung und Vernichtung zerstörten ihre Karrieren – und oft auch ihr Leben.

Ein prominentes Beispiel ist die Keramikerin Margarete Heymann-Loebenstein, die man zur Aufgabe ihrer »Haël-Werkstätten für künstlerische Keramik« in Marwitz bei Velten zwang, wo sie Tafelgeschirr und Vasen entwarf. »Es ist anzunehmen, dass sie ins Ausland geflohen ist, weil sie vorher von ihrer evtl. Inhaftierung Wind bekommen hatte«, informierte die NSDAP-Ortsgruppe Velten den örtlichen Treuhänder der Arbeit. Die Werkstatt übernahm später die junge Hedwig Bollhagen. Sie stellte Heymann-Loebensteins avantgardistische Keramik für einen hämischen Artikel zur Verfügung, der am 20. Mai 1935 in der Zeitung Der Angriff der Deutschen Arbeitsfront unter der Überschrift »Jüdische Keramik in der Schreckenskammer« erschien.

Im frühen 20. Jahrhundert mussten Frauen viele Widerstände überwinden, um berufliche Ambitionen zu verwirklichen und traditionellen Rollenerwartungen zu widersprechen – besonders in konservativen jüdischen Familien. Zu diesen Vorreiterinnen zählte Ida Dehmel (1870–1942), geborene Coblenz, Frauenrechtlerin und Tochter einer jüdischen Winzerfamilie: Sie betrieb in Hamburg eine Perlenstickerei mit eigenen Angestellten. Auch Käte Wolff (1882–1968) war Pionierin: In ihrem Berliner Designstudio entwarf sie Anzeigen, Firmenschilder, Exlibris und Kinderbuchillustrationen; berühmt wurde sie durch ihre Scherenschnitte. 1933 floh sie nach Paris, nannte sich Lalouve (»die Wölfin«) und überlebte im Versteck in Frankreich, bevor sie 1946 in die USA emigrierte. Der Katalog, der alle 60 porträtierten Frauen vorstellt, beschreibt Wolffs Bilderbogen »Die deutschen Frauen in der Kriegszeit« und andere Arbeiten aus dem Ersten Weltkrieg seltsam affirmativ: »Jüdische Frauen wie auch ihre nichtjüdischen Zeitgenossinnen unterstützten an der Heimatfront aktiv die Kriegsanstrengungen.«

Frauen aus dem Bürgertum, denen der Zugang zu akademischer Bildung verwehrt blieb, wählten künstlerische Berufe; andere suchten aus ökonomischer Not eigene Wege. Franziska Bruck etwa machte die Floristik in Deutschland als Kunstform berühmt und gründete eine Schule für Blumenschmuck. Zu ihren Kunden zählten Max Reinhardt und Rainer Maria Rilke. Die Frauenrechtlerin Emma Trietsch gab kostenlose Handarbeitskurse für arbeitslose Frauen und verkaufte ihre in Heimarbeit gefertigten Perlenstickereien an Kaufhäuser und Textilbetriebe.

Nach dem Ersten Weltkrieg erweiterten sich die Ausbildungs- und Erwerbsmöglichkeiten für Frauen deutlich. Die Bauhaus-Schülerin Marguerite Fried­laender-Wildenhain wurde 1926 Deutschlands erste Töpfermeisterin und leitete die Keramikwerkstatt der Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein in Halle. Sie floh vor den Nazis in die Niederlande und später nach Kalifornien, wo sie ihr Handwerk weitergab. Nach ihren Entwürfen produziert die Königliche Porzellanmanufaktur bis heute eine Vasenserie und das Mokkaservice »Hallesche Form«. Auch Anni Albers, Weberin am Bauhaus, konnte in die USA emigrieren; das MoMA widmete ihr 1949 als erster Textilkünstlerin eine Einzelausstellung. Anderen blieb die Flucht verwehrt: Die Goldschmiedin Paula Straus, eine der ersten Frauen im Industriedesign, wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und 1943 in Auschwitz ermordet.

Modedesign, Illustration, Werbung, Buchgestaltung und Typographie – auch für den wachsenden Zeitschriftenmarkt – wurden in den Großstädten zu wichtigen Berufsfeldern für Frauen. Dodo (Dörte Clara Wolf) entwarf Kostüme für Marlene Dietrich und Margo Lion und wurde vor allem durch ihre Gouachen für das Satiremagazin Ulk bekannt. Sie studierte an der Berliner Schule Reimann, 1902 vom jüdischen Künstlerpaar Albert und Klara Reimann gegründet und deutlich größer als das Bauhaus. Rund 20.000 Schülerinnen und Schüler erhielten dort eine Ausbildung in Kunst und Handwerk. Heute ist die Schule weitgehend vergessen: Während der Novemberpogrome 1938 verwüstet, wurde das Gebäude 1943 bei einem Luftangriff vollständig zerstört.

Regina Friedlaender führte erfolgreich einen Modesalon; ihre Hutmodelle erschienen in Zeitschriften wie Die Dame oder Elegante Welt, die die »Neue Frau« propagierten. Sie kannte die Tänzerin und Schauspielerin Anita Berber; die Hutmacherin Paula Schwarz war mit Yva verbunden, die den gewagten Hut mit weißer Taube fotografierte. Franziska Schlopsnies zählte zu den bedeutendsten Modegrafikerinnen der 20er Jahre, Steffie Nathan zeichnete für Die Dame und den Uhu. Nach 1933 wurden die Existenzen all dieser Frauen zerstört: Yva wurde 1942 in Sobibor ermordet, Paula Schwarz 1943 in Theresienstadt, Schlopsnies 1944 in Auschwitz; Ida Dehmel und Franziska Bruck nahmen sich 1942 das Leben. Die Frauen, die fliehen konnten, mussten meist von vorne beginnen. Eine der wenigen, die an frühere Erfolge anknüpfen konnte, war Irene Saltern, die in Hollywood als Kostümbildnerin beim Film Fuß fasste.

In der Ausstellung sind auch Zeichnungen von Elisabeth Tomalin (1912–2012) zu sehen, die an der Reimann-Schule ausgebildet wurde. Nach ihrer Flucht nach England gestaltete sie Plakate für das Ministry of Information und leitete später die Textildesignabteilung bei Marks & Spencer. Mit über 60 Jahren ließ sie sich in New York zur Kunsttherapeutin ausbilden und nutzte das Zeichnen, um ihr Verhältnis zu Deutschland zu verarbeiten, wo alle ihre Onkel und Tanten ermordet worden waren. Sie brachte Art Therapy und einen Ansatz, der sich auf Trauma und Versöhnung konzentrierte, nach Deutschland. Dieser Teil ihres Lebens gehört nicht mehr zum Design, verweist aber auf die Schick­sale und Erfahrungen der Frauen, deren Arbeiten die Ausstellung zusammenführt.

»Widerstände. Jüdische Designerinnen der Moderne«, Jüdisches Museum Berlin, bis 23. November 2025

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