Experimente im Kalkbergwerk
Von Alexander Kasbohm
Eine weite, einsame Landschaft, Wind, eine keltische Tin Whistle, ein Gefühl von Verlorenheit und Sehnsucht. Ein Pfeifen im Walde oder in den Ruinen einer Zivilisation. So eröffnet Lea Bertucci mit dem Track »Oracular Chasm« ihr neues Album »The Oracle«. Aufgenommen hat sie ihn im Stollen eines verlassenen Kalkbergwerks. Die New Yorker Experimentalmusikerin hatte schon immer ein besonderes Interesse an der Beziehung zwischen Klang, Mensch und Raum. Sie integriert Field-Recordings in ihre Tracks und nimmt an Orten auf, deren akustische Eigenheiten sie interessieren oder zu denen sie eine persönliche Verbindung hat. Sie sammelte Sounds der Abenddämmerung vor einer Hütte bei Woodstock, an Brücken und in Industrieruinen. Das Innere tritt in Kommunikation mit der Außenwelt, die Natur mit den Überbleibseln der Zivilisation. Doch das zentrale Element des Albums ist die Stimme, der menschliche Laut als Bedeutungsträger. Im zweiten Track »The Place Where the Sky Was Born« wird es in Form von Wortfetzen ins Spiel gebracht.
Bertucci hat Wörter und Laute improvisiert und aufgenommen, ohne vorher groß darüber nachzudenken, was oder worüber sie singen will. Dann hat sie sich angehört, was da aus ihr rauskam, es zerschnitten, bearbeitet und wieder zusammengefügt. Diese Laute sind das namensgebende Orakel; dem Hörer bleibt es überlassen, einen Sinn in diesen ihres Zusammenhangs beraubten Phonemen zu finden. Sie nennt den Prozess »Stream of Unconsciousness« – als Gegensatz zum »Stream of Consciousness«, der Erzähltechnik des »Bewusstseinsstroms«. Die alte Dichotomie von »Gefühl« und »Gedanke« ist neurowissenschaftlich überholt: Beide beruhen auf denselben Prozessen, unterscheiden sich nur dadurch, dass sie einmal bewusst und einmal unbewusst ablaufen, einmal stärker durch Logik gesteuert werden und einmal auf einen größeren Datensatz zugreifen. Wenn man der Umwelt nicht mehr mit Logik Herr werden kann, dann liegt der Ansatz, das innere Orakel zu befragen, nahe.
Die Techniken, die Lea Bertucci dazu nutzt, gleichen denen der Dadaisten, die in einer durch den Ersten Weltkrieg aus den Fugen geratenen Welt den Sinn, den das Bewusste nicht mehr liefern konnte, im Unbewussten zu finden. Damals wie heute eine Reaktion auf den Verlust von sicher geglaubten Gewissheiten, eines ordnunggebenden Rahmens, auf eine Welt, die nicht mehr zu verstehen, auf verschiedene Weisen »unfassbar« geworden ist.
Die Sprache als Mittel der Verständigung funktioniert nicht mehr. Wie kommuniziert man mit einer Bevölkerung, die zur Hälfte in eine alternative Realität abgetaucht und rational nicht mehr ansprechbar ist? »The Oracle« ist eine Collage, die die Innenwelt mit der Außenwelt in Beziehung setzt, versucht, Koordinaten zu bestimmen, Positionen zu triangulieren. Es ist die perfekte Umsetzung einer Welt, in der Information und Desinformation einander gleichwertig gegenüberstehen, in der Fakten keinen anderen Wert haben als Meinungen. In diesem Vertigo der Wahrnehmungen und der zertrümmerten Grenzen des Diskurses lässt sich der Halt vielleicht am ehesten noch bei der Suche nach Gewissheiten im Inneren finden.
Lea Bertucci: »The Oracle« (Cibachrome Editions)
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