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Aus: Ausgabe vom 08.11.2025, Seite 6 / Ausland
Brief aus Jerusalem

Nicht der Völkermord ist das Problem

Brief aus Jerusalem: Deutsche Delegation kritisiert Bischof, weil er Genozidbegriff verwendet
Von Helga Baumgarten, Jerusalem
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Religion und Politik gehen bei Abraham Lehrer Hand in Hand

Skandal in der Ost-Jerusalemer Erlöserkirche. Eine Delegation des Landtags von Nordrhein-Westfalen verlässt den Gottesdienst zum Reformationstag, angeführt vom stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Abraham Lehrer. Was war der Stein des Anstoßes? Der palästinensische evangelische Bischof Sani Ibrahim Azar hatte in seiner Predigt etwas für deutsche Ohren wohl nicht zu Ertragendes ausgesprochen: In Gaza wird ein Völkermord verübt. Für die Delegation ist der Völkermord anscheinend kein Problem. Das Problem scheint ausschließlich darin zu bestehen, dass man einen Völkermord als das benennt, was er ist: ein Völkermord. Vor allem aber verhindert anscheinend das Benennen dessen den Dialog, denn die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat behauptet, der Begriff stehe einer Verständigung und Versöhnung entgegen.

Was genau hat Bischof Azar in seiner Predigt gesagt? »Wie sieht Reformation nach zwei Jahren Völkermord aus? Wie sieht Reformation aus, wenn Kinder von Schulen ferngehalten werden? Wenn Menschen zu Unrecht inhaftiert sind? Wenn Familien immer noch unter Trümmern nach ihren Angehörigen suchen? Wenn die internationale Gemeinschaft das Leiden der Palästinenser ignoriert, ist das ein Aufruf zur Reformation. Wenn die vorherrschende Darstellung in den Medien die Palästinenser entmenschlicht und die Existenz palästinensischer Christen ignoriert, ist das ein Aufruf zur Reformation. Es reicht nicht aus, stillzustehen oder den Status quo aufrechtzuerhalten. Jetzt stehen wir vor der Notwendigkeit einer Reformation in unserer gesamten Gesellschaft, Nation und Welt.«

In der jüngsten Vergangenheit hat die offizielle deutsche Kirche gut mit der Naziherrschaft und der Judenvernichtung gelebt. Nur die Bekennende Kirche und ihre Sprecher bezahlten für ihre Kritik am Völkermord mit dem Leben. Auch die EKD steht in schändlicher Tradition: Völkermord sieht man nie dann, wenn er verübt wird. Vielleicht stellt sich die EKD ja vor, wie sich Bischof Azar mit den Herren Netanjahu und Itamar Ben-Gvir trifft, um einen Dialog zur israelischen »Selbstverteidigung« im Gazastreifen sowie zur Gewalt im Westjordanland zu beginnen. Oder mit Finanzminister Bezalel Smotrich, dem »König der Westbank«, dessen Siedlerhorden, unterstützt von Armee und Geheimdienst, Palästinenser aus ihren Dörfern vertreiben und die Olivenernte mit brutaler Gewalt verhindern.

Das Oberste Präsidialkomitee für Kirchenangelegenheiten in Ramallah stellte sich am Montag uneingeschränkt hinter Azar: »Die Wahrheit kann nicht verschwiegen werden, indem man die palästinensische Kirche mundtot macht. Die Reaktion der deutschen parlamentarischen Delegation ändert nichts an der Realität. Sie legt jedoch einen Doppelstandard offen, der diejenigen verurteilt, die eine dokumentierte Realität als solche beschreiben, und gleichzeitig das Leiden der Palästinenser unter Blockade und Zerstörung ignoriert.«

Von den offiziellen deutschen Vertretern der evangelischen Kirche in Jerusalem ist bis heute nichts zu hören. Derweil verbreitet sich in Deutschland eine Welle der Solidarität mit Bischof Azar, gekoppelt mit Kritik an der EKD und der Regierung von Nordrhein-Westfalen. Die Religionswissenschaftlerin und Journalistin Katja Dorothea Buck und der Pfarrer Andreas Maurer verfassten einen offenen Brief an die EKD, der inzwischen von Hunderten unterzeichnet wurde, darunter zahlreiche Pfarrer, zwei ehemalige Bischöfe und viele Professoren und führende Kirchenmitglieder. Der Brief kritisiert insbesondere die kolonialistische, herablassende und bevormundende Position der EKD und der Delegation aus NRW: »Wer sind wir als evangelische Christen in Deutschland, einem palästinensischen Bischof vorzuschreiben, wie er die Realität in seinem Land zu bezeichnen hat?«

Katja Dorothea Buck schreibt mir: »Es war sehr eindrücklich, wie viele Menschen sich zurückgemeldet haben. Viele haben sich bedankt, dass sie ihre Solidarität mit Bischof Azar auf diese Weise ausdrücken können. Einige schrieben auch, dass sie sich für ihre eigene Kirche schämen.«

Helga Baumgarten ist emeritierte Professorin für Politik der Universität Birzeit .

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (10. November 2025 um 04:20 Uhr)
    Vielleicht ist es ganz gut, wenn Menschen die Kirche verlassen, die das fünfte Gebot »Du sollst nicht töten« weder kennen noch respektieren. Der Mensch - Gottes Geschöpf? Ist doch egal, wenn es sich um Palästinenser handelt. Staatsräson rangiert vor Glaubensgrundsätzen, Schießen vor Humanismus. Schande über eine Kirche, die so etwas schweigend hinnimmt!

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