Es gibt was zu verlieren
Von Barbara Eder
Am ersten Novemberwochenende ist das Nürnberger Künstlerhaus einer der letzten Orte der Bundesrepublik, an denen linke Theorie, kritische Literatur und revolutionäre Erinnerungskultur nicht nur verlegt, sondern diskutiert, verteidigt und weitergedacht werden. Die 30. Linke Literaturmesse (30.10.–2.11.2025) lockte auch in diesem Jahr mit einigen Spezialitäten aus dem Register politischen Denkens. Wer durch die Räume des ersten Stockwerks streifte, vorbei an den Büchertischen der Verlage Mandelbaum, Papyrossa, Maro oder Gegenstandpunkt, konnte sich mit mehr als »nur« Literatur eindecken.
Die Kritik am »reaktionären Staatsumbau« war in diesem Jahr omnipräsent, nicht nur zwischen Buchdeckeln. Bei der Eröffnungsveranstaltung zum Thema »Das Ende der liberalen Demokratie!?« ließ der Politikwissenschaftler Raul Zelik keinen Zweifel daran, dass wir es nicht einfach mit einer Veränderung zu tun haben: Die Bundesrepublik transformiere sich zunehmend zu einem autoritären Gebilde, das politischen Widerstand kriminalisiert, NGOs überwacht und linke Kultur diffamiert. Die »Zeitenwende« sei durch alle Poren der Gesellschaft gedrungen. Und während sich die Repression äußerlich gegen linke Räume, Demonstrationen und palästinasolidarische Personen richtet, zielt die innere Zensur auf das Denken selbst.
Bücherlesen, so scheint es, ist in Zeiten der »Zeitenwende« bereits eine subversive Handlung. Dass die linke Zeitungspraxis unter Druck steht, machten Christof Meueler und Raul Zelik in ihrer gemeinsamen Veranstaltung mit dem Titel »Schreiben, bis wir verboten werden« deutlich. Sie sprachen von ihrer Arbeit bei der Tageszeitung ND, getragen von einer Genossenschaft der Leserinnen und Leser und akut bedroht – bis Jahresende fehlen noch 150.000 Euro zum Stopfen der Finanzlücke. Ab 2026 wird es gedruckt nur noch die Wochenendausgabe ND – Die Woche geben, das Onlinelesen – ohne Paywall – will in der Zwischenzeit geübt sein. Die Rolle linker Presse bestehe laut Meueler und Zelik weiterhin darin, »linkspluralistische« Zugänge in weitgehend autoritätsfreien Räumen zu erhalten – auch abseits der Tagesaktualität. Mit welchem Instrumentarium Bundesregierung und EU das zu verhindern suchen, darüber berichtete jW-Chefredakteur Nick Brauns aus eigenen Erfahrungen am Samstag.
Es ging auf der Literaturmesse also nicht nur um Texte, sondern auch um die Bedingungen ihrer Möglichkeit. Um die Sorge um die Fortführung ihres Erscheinens. Mehr als 60 Buchvorstellungen deckten das breite Themenspektrum einer nonkonformistischen Linken ab: von der Ausdifferenzierung des Begriffs »Zionismus«, der Donny Gluckstein und Janey Stone (»Die radikale jüdische Tradition«, Die Buchmacherei) zufolge innerhalb der radikaljüdischen Tradition des 19. Jahrhunderts nicht zwangsläufig mit nationalstaatlichen Doktrinen verbunden war, bis hin zur feministischen Auseinandersetzung mit Fehlgeburten, die Christine Koschmieder mit ihrer Lesung aus ihrem aktuellen Buch »Das F-Wort« (Maro-Verlag) initiierte. Mit der Präsentation des aktuellen Jahrbuchs für marxistische Gesellschaftstheorie legte Koherausgeber Karl Reitter eine Analyse von Krieg, Geopolitik und Gefängnisindustrie vor – materialistisch fundiert und ohne Flucht in Moralismen.
Die 30. Linke Literaturmesse inszenierte kein »Event«, sie feierte einen Zustand. Einer, mit dem es weitergehen könnte. Zwischen marxistischen Analysen, polemischen Pamphleten und essayistischen Streifzügen durch Gegenwart und Utopie fanden sich zahllose Debatten, in denen vielleicht kein Konsens hergestellt, aber Dissens ausgehalten wurde. Es gibt schließlich viel zu verlieren – und deshalb auch einiges zu verteidigen. Zwischen Aufbruch und Melancholie ist Platz für das, was man »Solidarität« nennt. Ideologiekritische Schärfe ist noch immer Voraussetzung dafür. Sie bleibt auch dann, wenn die Räume dafür fortwährend enger werden.
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