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Aus: Ausgabe vom 05.11.2025, Seite 10 / Feuilleton
Kritische Psychologie

Motivation trotz Kapitalismus

Zum 90. Geburtstag der marxistischen Psychologin Ute Osterkamp
Von Michael Zander
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Was bestimmt unsere Bedürfnisse, wie gelingt ihre Befriedigung? Ute Osterkamp (l.) im Gespräch (1979)

Als Student am Psychologischen Institut (PI) der Freien Universität Berlin verfasste ich Mitte der 1990er Jahre meine Vordiplomarbeit über psychologische Aspekte politischer Organisation. Allerdings schrieb ich, soweit ich mich erinnere, in einem etwas hochtrabenden und umständlichen Stil und insgesamt nicht besonders gut. Die Betreuerin meiner Arbeit hatte viel Geduld mit mir und gab mir meine Entwürfe immer wieder kommentiert zurück. Einmal fragte ich sie, was ein »T« am Seitenrand zu bedeuten habe. »Ach, das ist ein privates Korrekturzeichen von Klaus und mir«, sagte sie freundlich. »T bedeutet Teltow, das heißt, der Satz ist so lang, dass man über Teltow fahren muss, um ans Ende zu gelangen.« Man sollte also öfter mal einen Punkt machen. Dies versuchte ich fortan ebenso zu berücksichtigen wie ihren Rat, das lesende Publikum wie einen willkommenen Besuch zu behandeln, dem man die Stadt zeigt und alles gut erklärt.

Die Betreuerin war Ute Osterkamp und »Klaus« war ihr Ehemann und Kollege Klaus Holzkamp (1927–1995). Dieser hatte mit ihr sowie weiteren Kolleginnen und Kollegen – darunter Gisela Ulmann (1941–2022), Morus Markard, Wolfgang Maiers, Frigga Haug und Peter Keiler – ab den 1970er Jahren am PI eine marxistisch fundierte Theorie entwickelt, die »Kritische Psychologie«. Der Ansatz der Kritischen Psychologie bestand darin – in Anlehnung an Schriften des sowjetischen Psychologen Alexej Leon­tjew (1903–1979) –, die biologische, sozialhistorische und individualbiographische Entwicklung des Psychischen nachzuzeichnen. Auf diesem Wege sollten Begriffe gewonnen werden, mit denen sich die psychischen Konflikte angesichts kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse abbilden lassen.

Osterkamp wurde 1935 in Berlin geboren und wuchs auf dem in Brandenburg gelegenen Gut ihrer wohlhabenden Großeltern auf. Dort wurde sie früh mit sozialen Gegensätzen und Spannungen konfrontiert, die aus den Eigentums- und den Geschlechterverhältnissen entsprangen. 1957 begann sie an der FU Berlin das Studium der Psychologie, zunächst in Kombination mit Anglistik und Publizistik. Später wurde sie wissenschaftliche Hilfskraft bei Hans Hörmann (1924–1983) und arbeitete von 1965 bis 1969 in einem Feldforschungsprojekt zu psychischen und physischen Belastungen durch Fluglärm. Im Zuge der 68er Bewegung schlug sie sich auf die Seite der Studierenden und lernte in diesem Zusammenhang Klaus Holzkamp kennen, der damals bereits Professor war und zum Spiritus rector der Kritischen Psychologie avancieren sollte. Am demokratisch sich umgestaltenden PI erhielt sie 1969 eine unbefristete Mittelbaustelle.

Mit ihrer zweibändigen »Motivationsforschung« von 1975/76 trug sie maßgeblich zur Umsetzung des kritisch-psychologischen Programms bei. Ihre Untersuchung der Phänomene »Motivation« und »Emotion« begann nicht mit dem Kapitalismus; vielmehr rekonstruierte sie zunächst die biologischen Grundlagen, die Menschen mit anderen Tieren teilen. Dabei spielten Forschungsergebnisse der US-amerikanischen Primatologin Jane ­Goodall (1934–2025) eine gewisse Rolle. Durch »Motivation«, so lassen sich Osterkamps Befunde zusammenfassen, mobilisieren Säugetiere Energie, um Quellen der Bedürfnisbefriedigung zu erschließen. »Emotionen« signalisieren die Zu- und Abträglichkeit von Umweltgegebenheiten am Maßstab der Bedürftigkeit des Organismus. Im Gegensatz zu Tieren ist es für Menschen notwendig und möglich, sich und ihren Nachwuchs durch kooperative Arbeit am Leben zu erhalten. Zur vorsorgenden Bedürfnisbefriedigung entwickeln sie gesellschaftliche Beziehungen. Insbesondere in einer Klassengesellschaft wie dem Kapitalismus sind Menschen den von ihnen geschaffenen Verhältnissen jedoch zugleich unterworfen. Dies zeigt sich nicht zuletzt in emotionaler und motivationaler Hinsicht. Um handlungsfähig zu bleiben, bemühen sich Menschen um Teilhabe und versuchen, Ausgrenzung zu vermeiden. Dabei stehen sie vor der prinzipiellen Alternative, Herrschaftsverhältnisse zu bekämpfen oder die eigene Position darin zu Lasten Dritter zu verbessern.

Im zweiten Band ihrer »Motivationsforschung« setzt sich Osterkamp ausführlich mit Sigmund Freuds Psychoanalyse auseinander. Kritisch würdigt sie dabei Freuds Lehre vom Unbewussten, die sie in modifizierter Form in mehreren nachfolgenden Untersuchungen anwendet. Immer wieder kommt sie auf die Frage zurück, warum sich Menschen an der Aufrechterhaltung unmenschlicher Bedingungen beteiligen oder diese verändern, ob sie ihre jeweilige Mitverantwortung wahrnehmen oder verleugnen. Ihre theoretischen und empirischen Analysen handeln z. B. von Rechtfertigungsideologien in literarischen Selbstzeugnissen von Nazitätern, von Konflikten in Flüchtlingswohnheimen angesichts einer repressiven staatlichen Migrationspolitik, vom Umgang mit der DDR-Vergangenheit in der Bundesrepublik oder von Problemen der alltäglichen Lebensführung im Kapitalismus.

Seit den 2000er Jahren arbeitet Osterkamp an der Herausgabe der gesammelten Schriften von Klaus Holzkamp. An der FU Berlin ist die Kritische Psychologie heute Geschichte, sie wird aber an einigen Fachhochschulen weiterhin gelehrt. Viele ihrer Texte sind inzwischen digital zugänglich und stehen für Rezeption und Weiterentwicklung des Ansatzes zur Verfügung.

Ute Osterkamp wird heute 90 Jahre alt. Wir gratulieren an dieser Stelle herzlich!

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