Nervende Mitbewohner
Von Reinhard Lauterbach
					Es war nur eine Randbemerkung im Frühstücksfernsehen des rechten Senders TV Republika am Freitag morgen. Aber sie war charakteristisch. Eigentlich ging es in dem Studiogespräch um ein umstrittenes Gerichtsurteil: Das Appellationsgericht in Poznań hatte die Verurteilung eines Mannes, der seine Frau und zwei gemeinsame Kinder ermordet hatte, aufgehoben, weil ein sogenannter Neorichter – also einer, der sein Amt der PiS-Regierung verdankt – das Urteil gefällt hatte. Deshalb sei die Verurteilung des Mörders zu lebenslanger Haft unwirksam, sagte die Berufungsinstanz; aber anders als der rechte Sender insinuierte, wurde der mutmaßliche Täter nicht freigelassen, sondern sitzt weiter in U-Haft. Das Verfahren wird neu aufgerollt. Bei TV Republika aber konnte sich der Moderator in einem Schwall von Klagen darüber, dass es unter der Tusk-Regierung in Polen drunter und drüber gehe, den Spruch nicht verkneifen, dass »Ukrainer jetzt in Polen offenbar machen können, was sie wollen«. Denn der Angeklagte Serhij K. gehört zu den etwa 1,5 Millionen Ukrainern, die teils seit Jahren, überwiegend aber seit Kriegsbeginn in Polen leben.
Deren Beitrag zum Funktionieren im Alltag ist knapp vier Jahre nach Kriegsbeginn nicht zu übersehen: In den Supermärkten, wo die Mitarbeiterinnen Namensschilder tragen, sind neben die »Katarzynas« die »Katerynas«, neben die »Irenas« die »Irynas« getreten. Manchmal hört man noch einen Akzent, wenn sie an der Kasse den Rechnungsbetrag nennen, oft auch nicht mehr. Ein im Auftrag der UNO erstellter Bericht der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte kam zu dem Ergebnis, dass von den Geflohenen aus der Ukraine 69 Prozent sozialversicherungspflichtig beschäftigt seien – wenn auch sehr oft unterhalb ihrer formalen Qualifikationen –, gegenüber 75 Prozent bei den »Biopolen«. 2024, schreibt der Wirtschaftsprüfer, hätten Menschen aus der Ukraine 2,7 Prozent des polnischen Sozialprodukts erwirtschaftet.
Auf viele Polen machen solche Zahlen keinen Eindruck. »Die Ukrainer« werden für Mängel haftbar gemacht, an denen sie objektiv gesehen nicht schuld sind: lange Wartezeiten auf Termine beim Facharzt, teure Wohnungen und knappe Kitaplätze. Für Ärger sorgen nationalistische Vorfälle, etwa im Sommer bei einem – im übrigen russischsprachigen – Popkonzert in Warschau, wo ukrainische Fans eines belarussischen Rappers die rot-schwarzen Fahnen der faschistischen Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) schwenkten. Das war Wasser auf die Mühlen polnischer Nationalisten, die vor allem im Südosten des Landes gegen eine »Ukrainisierung Polens« demonstrierten. Verbreitet ist die Ansicht, dass »die Ukrainer« alles kostenlos bekämen, während »die Polen« für staatliche Leistungen Steuern und Beiträge zahlen müssten. Die anfangs überwältigend freundliche und hilfsbereite Stimmung gegenüber den Ankömmlingen aus dem Osten ist inzwischen gekippt. Blüte und Ende der deutschen »Willkommenskultur« von 2015 lassen grüßen.
Aber es sind nicht nur spontane Ausbrüche von Sozialneid und Ressentiment, die sich hier Luft machen. Das Vorbild kommt von oben. Der vorherige Staatspräsident Andrzej Duda hatte den Anfang gemacht, als er erst ankündigte, künftig der Ukraine nur noch gegen Bezahlung Waffen zu liefern, und dann nach dem Ende seiner Amtszeit sogar einmal die Wahrheit sagte und berichtete, dass Wolodimir Selenskij ihm nahegelegt habe, den Raketeneinschlag im ostpolnischen Dorf Przewodów im November 2022 fälschlich Russland zuzuschreiben, obwohl es eine vom Kurs abgekommene ukrainische Flugabwehrrakete war, die dort zwei Landarbeiter getötet hatte. Dudas Nachfolger Karol Nawrocki hat noch keine Zeit für einen Besuch in der Ukraine gefunden und statt dessen angekündigt, er werde keinen Beitritt der Ukraine zur EU unterschreiben, solange Kiew sich nicht für die »ethnische Säuberung« gegen polnische Bewohner der Westukraine 1943 und 1944 entschuldige. Der Sejm hat die Vorgänge von damals im Sommer offiziell zum Völkermord erklärt und mit einem staatlichen Gedenktag am 11. Juli gewürdigt. In der Ortschaft Domostawa im Südosten Polens steht an exponierter Stelle ein im Juli enthülltes 20 Meter hohes Denkmal für die Opfer der »wolhynischen Massaker«, das unter anderem ein Kind zeigt, das auf einen Dreizack – Symbol des ukrainischen Nationalismus und Teil des ukrainischen Staatswappens – aufgespießt ist. Die Stifter, Auslandspolen aus den USA und Kanada, rechtfertigten die drastische Darstellung damit, dass die Aktionen der UPA gegen ihre polnischen Nachbarn noch viel drastischer gewesen seien. An der Eröffnungsfeier nahmen trotz regnerischen Wetters 20.000 Menschen teil.
Darunter liegt ein objektiver Widerspruch: Polen erhofft sich »oben« von einem ukrainischen EU-Beitritt politische Vorteile als Fürsprecher für Kiew und einen »Sicherheitsgewinn«, aber es wird wirtschaftlich einen Großteil der hiermit verbundenen Kosten tragen müssen. Einmal dadurch, dass die Aufnahme der Ukraine den Durchschnitt des Sozialprodukts in der EU drückt und Polen hierdurch automatisch zum Nettozahler beim EU-Budget würde – auch wenn das in der nächsten Budgetperiode der EU sowieso zu erwarten ist. Zweitens und vor allem aber dürfte »unten« die polnische Landwirtschaft die Zeche zu zahlen haben, wenn ukrainisches Getreide ungehindert auf den polnischen Markt gelangen kann. Das ist der harte Kern der »Ukrainerfeindlichkeit«, die liberale Kommentatoren in Polen wie etwas beklagen, das man mit ein bisschen Anstand vermeiden könnte. Die Wahrheit ist: Polens politische Klasse hat diese Stimmung selbst heraufbeschworen.
Hintergrund
Kämpfen statt jobben
Es stimmt schon: Wenn einen im Straßenverkehr ein SUV mit ukrainischer Nummer schneidet, schießt einem schnell der Spruch durch den Kopf: »Tschomu ne na fronti?« Warum bist du eigentlich nicht an der Front? Im vierten Jahr der massenhaften Anwesenheit von Ukrainern wird die kleine Alltagsbosheit aber langsam zur politischen Parole. Sowohl in Polen als auch in Deutschland mehren sich die Politikerstimmen, mindestens männliche ukrainische Staatsbürger im wehrpflichtigen Alter von dem generellen Schutz auszunehmen und sie zurückzuschicken in die Hände der ukrainischen Wehrersatzämter. Der Ranghöchste, der sich in diesem Sinne geäußert hat, dürfte in Deutschland der bayerische Ministerpräsident Markus Söder gewesen sein. Schnell passieren dürfte das allerdings nicht: Der generelle Schutz der Geflohenen ohne Rücksicht aufs Geschlecht ist auf EU-Ebene bis März 2027 garantiert.
Für Unmut auf politischer Ebene hat dabei eine vor kurzem in Kraft getretene Ausnahmeregelung in der Ukraine gesorgt: Neuerdings dürfen junge Männer zwischen 18 und 22 Jahren das Land verlassen. Genau jene Altersgruppe, deren Zwangsmobilisierung USA und NATO seit langem verlangen. In der Ukraine liegt die Altersgrenze derzeit bei 25 Jahren. Viele Jüngere haben die neue Möglichkeit offenbar genutzt: Allein an der deutsch-polnischen Grenze sollen laut Berliner Tagesspiegel seit August 100.000 Einreisende in diesem Alter gezählt worden sein. Vorher schon hatten viele ukrainische Familien ihr letztes Geld lockergemacht, um ihre Söhne kurz vor der Volljährigkeit unter irgendeinem Vorwand »nach Europa« schicken zu können. Halbe Abiturklassen sollen mit dem Zeugnis in der Tasche der Ukraine den Rücken gekehrt haben, meldeten im Frühjahr ukrainische Medien.
Was sich die Regierung in Kiew bei dieser Regelung gedacht hat, ist nicht völlig klar. Offiziell heißt es, es müsse dafür gesorgt werden, die »biologische Substanz der ukrainischen Nation« zu retten. Man kann das glauben oder nicht, aber wenn es so stimmte, wäre es ein ausgesprochen drastisches Indiz für die wirkliche Höhe der ukrainischen Verluste. Riskant ist die Genehmigung allemal: Denn bei Ausreisenden in diesem Alter ist mehr als ungewiss, ob sie, einmal im Westen eingelebt, Lust haben werden, in die kriegszerstörte Ukraine zurückzukehren und »die biologische Substanz« ausgerechnet dort wiederherzustellen.
Der Unterschied der Kalkulationen zwischen München und Kiew: Das langfristige Überleben einer halben Generation von Ukrainern ist den Söders ziemlich egal. Die jungen Männer sollen sich schon jetzt als Menschenmaterial für den Krieg bereithalten, der auch und gerade im westlichen Interesse geführt wird. (rl)
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