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Aus: Ausgabe vom 03.11.2025, Seite 9 / Schwerpunkt
Gaza

Waffenstillstand, nicht Frieden

Gaza: junge Welt hat mit der Hamas, dem Islamischen Dschihad und der PFLP über das Ende des Krieges und ihre Erwartungen für die Zukunft gesprochen
Von Gerrit Hoekman
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Kinder beobachten Kämpfer der Hamas in Rafah (22.2.2025)

In den Mainstreammedien wird immer viel darüber berichtet, was die USA und Israel nach Kriegsende mit dem Gazastreifen vorhaben. Was aber die palästinensischen Organisationen für Vorschläge auf den Tisch legen, ist kaum Gegenstand der Berichterstattung. Junge Welt hat dazu vor rund einer Woche mit Vertretern der drei wichtigsten Organisationen aus dem Gazastreifen gesprochen: mit der Hamas, dem Palästinensischen Islamischen Dschihad und der marxistisch-leninistischen Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP).

Im Gazakrieg musste die Hamas schwere Verluste hinnehmen. Dennoch ist sie nach wie vor die einflussreichste Organisation in der völlig zerstörten Enklave am Mittelmeer. Welchen Plan hat die Hamas für Palästina? Steht sie zur international favorisierten Zweistaatenlösung? Oder ist es doch so, wie es die Jüdische Allgemeine behauptet: »Die Mehrheit der Palästinenser will keine Koexistenz. Sie will keinen Kompromiss. Sie will das, was die Palästinenser immer wollten: das Ende des jüdischen Staates.«

Walid Kilani, Hamas-Sprecher im Libanon, hat eine andere Sichtweise auf den Konflikt mit Israel. »Ihr Ziel ist die Auslöschung des palästinensischen Volkes«, ist er im Gespräch mit junge Welt sicher. »Solange Israel weiterhin Gebiete besetzt hält – im Libanon, im Gazastreifen, im Westjordanland oder anderswo – handelt es sich um einen Feind, und wir können dies nicht als Friedensabkommen bezeichnen. Es ist ein Waffenstillstandsabkommen.« Mit einem Besatzer könne es keinen Frieden geben. Das klingt unversöhnlich.

7. Oktober 2023

»Früher sagten wir, dass der Zug der Normalisierung in der arabischen Welt begonnen habe, und viele arabische und muslimische Führer eingestiegen seien – es schien, als ob die palästinensische Sache vergessen worden wäre und die Normalisierung zusammen mit den Abraham-Abkommen dominieren würde. Dann kam die Al-Aqsa-Flut, um zu bekräftigen, dass die palästinensische Sache noch immer lebendig ist.« Kilani meint den Angriff palästinensischer Verbände auf Israel am 7. Oktober 2023.

Aktuell ruhen zwischen der Hamas und Israel offiziell die Waffen. Die Verstöße gegen den Waffenstillstand werden von israelischer Seite jedoch immer heftiger. Erneut sterben in Gaza Dutzende Menschen. Es besteht die große Gefahr, dass die Kampfhandlungen im großen Maßstab bald wieder beginnen. »Wir führen Verhandlungen über einen Waffenstillstand und wir halten an dieser Vereinbarung fest, solange die Besatzungsmacht sich daran hält«, beteuert Kilani. »Natürlich vertrauen wir weder der US-Regierung noch Präsident Trump, da die USA in der Palästina-Frage politische Heuchelei praktizieren und mit zweierlei Maß messen. Sie sind der wichtigste Unterstützer des Feindes in jeder Hinsicht: politisch, militärisch, finanziell und diplomatisch. Sie haben im Sicherheitsrat sechsmal ihr Veto gegen einen Waffenstillstand eingelegt. Wie können wir einer solchen Regierung vertrauen?«

Kilani verweist auf den Osloer Friedensprozess von 1993. »Es gibt eine Gruppe von Palästinensern, die seit dreißig Jahren das Osloer Abkommen ausprobiert, aber es hat dem palästinensischen Volk weder Sicherheit, Stabilität noch Frieden gebracht.« PLO-Chef Jassir Arafat, Israels Ministerpräsident Jitzchak Rabin und Außenminister Schimon Peres erhielten den Friedensnobelpreis – für ein Abkommen, das von Beginn an zum Scheitern verurteilt war. Die Palästinenser erhielten nur eine gewisse Autonomie in einigen Gebietsfetzen der Westbank und im gesamten – allerdings seit 2007 von außen blockierten – Gazastreifen. Der Zustand hat sich sogar verschlechtert, weil Israel seine illegalen Siedlungen auf der Westbank immer weiter ausbaut.

1993 spielte US-Präsident Bill Clinton eine entscheidende Rolle. Heute würde Donald Trump nur zu gerne der Friedensengel sein. Die Hamas hat anscheinend große Erwartungen an den unberechenbaren Exzentriker im Weißen Haus. »Den Erklärungen zufolge meint es die US-Regierung ernst – auch wenn wir uns nicht auf sie verlassen –, aber sie ist entschlossen, dafür zu sorgen, dass die Vereinbarung eingehalten wird und der Waffenstillstand dauerhaft ist.« Trump habe erklärt, der Krieg sei vorbei, und »wiederholte das dreimal, aber Netanjahu versucht, dieses Abkommen zu unterlaufen.«

Wie stellt sich die Hamas die Zukunft des Gazastreifens vor? »Was die Verwaltung des Gazastreifens betrifft, befürworten wir eine Regierung aus Technokraten, eine Verwaltung oder ein Komitee, das unabhängig ist, über Kompetenzen verfügt und rein palästinensisch ist«, beteuert Kilani. »Wir sind nicht entschlossen, den Gazastreifen als Hamas zu regieren.« Wichtig sei, dass die unabhängige Verwaltung von allen palästinensischen Fraktionen anerkannt wird.

Entwaffnung abgelehnt

Entwaffnen lassen will sich die Hamas allerdings noch nicht. »Der Widerstand und die Waffen des Widerstands in unseren Händen sind legitim, und wir schämen uns nicht dafür. (…) Selbst die Charta der Vereinten Nationen garantiert das Recht besetzter Völker, gegen diejenigen zu kämpfen, die ihr Land besetzen«, so Kilani im Gespräch mit der jW. »Dieser Widerstand ist entstanden, weil es eine Besatzung gab. Ohne Besatzung gäbe es keinen Widerstand.« Die Hamas wäre dann eine politische Partei, »genau wie jede andere Partei auf der Welt.«

Das Scheitern des Oslo-Prozesses hat die Hamas praktisch erst stark gemacht. Bis dahin war die säkulare Fatah die bestimmende Kraft in der Befreiungsbewegung. Auch die marxistisch-leninistische Demokratische Front zur Befreiung Palästinas (DFLP) und die PFLP besaßen großen Einfluss. Heute spielen sie höchstens noch eine Nebenrolle.

Die PFLP bewertet den Ausgang des Gazakrieges als Erfolg. »Die Schlacht um Gaza hat die Entschlossenheit des palästinensischen Volkes gestärkt, in seine Städte und Dörfer in Palästina zurückzukehren. Heute fühlen wir uns mehr denn je unserer Parole verbunden, Palästina vom Fluss bis zum Meer, das gesamte Land Palästina zu befreien«, sagt Abdullah Al-Danan, der Leiter der Abteilung für politische Beziehungen der PFLP im Libanon, im Interview mit der jW.

»Was die Einhaltung des Waffenstillstands angeht, so vertrauen wir dieser zionistischen Entität nicht. Wir vertrauen weder den Zusagen des Feindes noch denen, die dieses Abkommen garantiert haben«, so Al-Danan. Wie eh und je weigert sich die PFLP den Namen Israel zu nennen – angesichts der Realität erscheint dies als überholte Phrase.

Und wie soll es nach Ansicht der PFLP nach dem Krieg weitergehen? »Wir lehnen jedes neue Mandat ab, selbst wenn es unter einem internationalen oder humanitären Deckmantel stattfindet. Denn es wird weiterhin Kolonialismus gegenüber unserem Volk praktizieren.« Wer wird also Gaza regieren? »Das palästinensische Volk.«

Trumps Vorschlag

Der Palästinensische Islamische Dschihad (PIJ) ist nach der Hamas die zweitgrößte Organisation im Gazastreifen, allerdings mit einigem Abstand. Er wurde 1979 von Fathi Schakaki und gleichgesinnten Kommilitonen gegründet. Schakaki starb 1995 in Malta bei einem Mordanschlag des israelischen Geheimdienstes. Der Islamische Dschihad betrachtet die Befreiung Palästinas als eine Etappe auf dem Weg zu einem großen islamischen Staat in allen Gebieten, in denen Muslime leben. Über viele Jahre verübte der PIJ in Israel Bombenanschläge mit vielen Opfern.

»Sicherlich hat der Vorschlag von US-Präsident Trump eine Verschiebung des politischen und militärischen Weges erzwungen und Benjamin Netanjahu dazu genötigt, den Waffenstillstand zu akzeptieren«, unterstreicht Haitham Abu Ghaslan, ein Anführer des PIJ, gegenüber junge Welt die Rolle des US-Präsidenten. »Israel wollte das palästinensische Volk vertreiben, seine Überreste ausrotten.« Aber jetzt stehe Israel weitgehend isoliert da und »Palästina ist auf die politische Bühne zurückgekehrt (…). Dieses Blut und dieser Widerstand haben diese große Veränderung in der Region bewirkt, die zur Durchsetzung dieses Waffenstillstands geführt hat.«

Auch beim PIJ überwiegt Skepsis. »Natürlich vertrauen wir weder Israel noch seinen Führern, noch den USA und Trump. Heute haben Israel und die USA ein Interesse daran, ihre Isolation zu beenden und daher auch an der Fortsetzung dieses Abkommens. Natürlich gibt es Verstöße, die mit Verstößen beantwortet werden können, aber wir als palästinensischer Widerstand bleiben diesem Abkommen verpflichtet«, so Haitham Abu Ghaslan. Netanjahu versuche diese Bemühungen zu behindern, wie bereits mit seiner Reihe von Verstößen geschehen. Ohne die Intervention der USA wäre das Abkommen bereits gescheitert, ist Abu Ghaslan überzeugt.

Die palästinensische Seite habe sich an die Abmachungen gehalten. Alle noch lebenden israelischen Gefangenen seien freigelassen worden. Dass noch nicht alle Leichen übergeben worden sind, liege an fehlenden Werkzeugen und Experten, zudem habe Israel wiederholt den Zugang von Teams und Ausrüstung verhindert.

An den Verhandlungen, die zum Waffenstillstand führten, hätten neben der Hamas auch die PFLP und der Islamische Dschihad mit eigenen Delegationen teilgenommen, berichtet Abu Ghaslan. Für die Zeit nach dem Krieg hat er klare Vorstellungen. »Auf keinen Fall können wir eine externe Verwaltung akzeptieren, denn dies würde eine internationale Vormundschaft, also eine neue Besatzung bedeuten.« Die Regierungsform in Gaza werde das palästinensische Volk bestimmen. Der Dschihad stimme dem Vorschlag der Hamas zu, die Verwaltung an ein sogenanntes Technokratenkomitee zu übergeben. Aber: »Solange die israelische Besatzung auf palästinensischem Land besteht, kann niemand den Widerstand des palästinensischen Volkes aufhalten.«

Von einer Zweistaatenlösung hält der Dschihad nichts. »Wir sind nicht für den Vorschlag, und der israelische Feind ist nicht für diesen Vorschlag.« Da Israel einen palästinensischen Staat im Westjordanland als Bedrohung ansehe, »beobachten wir eine Zunahme der Siedlungen im Westjordanland sowie eine Zunahme der Angriffe.« Auch der Dschihad lehnt ab, die Waffen niederzulegen. »Niemand kann das palästinensische Volk entwaffnen. (…) Wenn die Vereinigten Staaten von Amerika besetzt wären, würde dann auch nur einer von ihnen schweigen und keinen Widerstand leisten?«

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