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Aus: Ausgabe vom 01.11.2025, Seite 10 / Feuilleton
Lesung in der jW-Maigalerie

Mitten in der Schlacht. Mahnungen von Johannes R. Becher in der jW-Maigalerie

Mahnungen von Johannes R. Becher in der jW-Maigalerie
Von Hagen Bonn
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»Wie lange dauert das da vor Moskau noch? 100 Kilometer, das kann doch nicht so schwer sein.«

»Für Feinde führt kein Weg nach Moskau / Den Freunden aber öffnen wir das Herz.« – Johannes R. Becher

In einem gesellschaftlichen Klima verschärfter Kriegsvorbereitung präsentierte die Maigalerie der jungen Welt am Donnerstag abend eine szenische Lesung des Theaterstücks »Winterschlacht« von Johannes R. Becher. Unter der Regie von Peter Wittig setzte das Sidat-Projekttheater ganz auf die Wucht und Unmittelbarkeit der »Deutschen Tragödie«, wie Becher seinen Text überschrieb. Fünf Akte, 85 Seiten, die den Zeitraum von Oktober 1941 bis zum Neujahrstag 1942 behandeln.

Gleich zu Beginn des Stücks dröhnt ein mit akuter Kriegshysterie infizierter, vor Glück taumelnder »Kriegsberichter«: »Die deutsche Ostfront spricht. Sie werden heute Zeuge sein stürmischsten Zeitgeschehens … Winterschlacht! Achtung! Achtung! Die Übertragung beginnt!« Diese Liveberichterstattung des deutschen Nazirundfunks können wir uns heute wie selbstverständlich auch bei ARD und ZDF und dem Rest der kriegstüchtigen Medien vorstellen. Moment! Vorstellen? Nein, das hat Deutschland schon gesehen, gehört, gelesen: Bomben auf Belgrad (1999), eine Rakete in eine Hochzeitsgesellschaft in Afghanistan (2009), zuletzt die Verzehnfachung der Liefermenge an Tötungsmaterial für den Genozid in Gaza. »Moskau 100 Kilometer« stand damals auf einem Schild, das, auf einer Anhöhe aufgestellt, der vorrückenden faschistischen Wehrmacht den Weg weisen sollte. »100 Kilometer«, das bedeutete auch: Kameraden, wir haben es geschafft!

Wie kaum ein anderer Künstler der an herausragenden Künstlern nicht armen DDR steht Johannes R. Becher programmatisch für das Kunstverständnis des von der Arbeiterklasse geführten Staates. 1924 stellt er seinen Prosastücken ein Motto voran: »Dieses Buch ist aus dem Kampf geboren. / Es ist Kampf. / Es will wieder Kampf. / Reine Kunstwerke sind für den Kampf nach dem Siege da. / Wir aber sind mitten in der Schlacht.« Ilse Siebert kommentierte das im Lesebuch »Becher für unsere Zeit« (Aufbau-Verlag) so: »Sein Ziel ist Aufklärung, seine Argumentation wissenschaftlich, seine künstlerischen Mittel tragen den Charakter der Dokumentation. Der Künstler – wie der einzelne überhaupt – erfüllt nur dann seine Aufgabe, wenn er in der Masse aufgeht, eins ihrer namenlosen Teilchen wird.«

So verstanden es auch die Künstler in der Maigalerie. Peter Wittig, der Regie führte und den Becher-Text »eindampfte«, wie er es gegenüber junge Welt formulierte, also für die Bühne in Form brachte, erläuterte, wie es zu dieser Lesung kam: »Erstens, wir sollen kriegstüchtig werden. Zweitens, Russland ist der Feind. Und drittens, das Neueste von einem General Freuding, wir bräuchten eine Armee, die kämpfe! Und da haben wir uns ganz schnell für dieses Stück entschlossen. Deswegen auch eine szenische Lesung, weil es sehr schnell gehen musste.«

Ganz schnell geht es dann auch auf der Bühne zu, fliegender Wechsel an den Lesepulten. Die Besucher in der sehr gut besuchten Maigalerie werden förmlich hineingezogen in diese Winterschlacht, diesen Vernichtungsfeldzug. Um sich schlagende »Helden«, Widerständige, Zweifler, Verblendete und Blender im Offiziersrang. Dann der Kriegsalltag an der Heimatfront: bangende Ehefrauen, trauernde Mütter, pflichtversessene SS-Offiziere. Wie lange dauert das da vor Moskau noch? 100 Kilometer, das kann doch nicht so schwer sein. Der »Held« antwortet: »Die Russen, die … Die Russen, die sind anders.«

Die sechs Darsteller wechseln souverän ihre Rollen, schlüpfen aus der einen in die andere, was anfänglich irritiert, aber bald Methode erkennen lässt. Die Fragen von Schuld, Unschuld, Verantwortung und Verbrechen werden nicht aufgelöst ins unkonkret Neblige, sondern fein seziert – sie glänzen wie unter dem Neonlicht eines OP-Tisches. Das meinte Johannes R. Becher mit: »Wir aber sind mitten in der Schlacht.«

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