Das Ding mit der Kollektivbestrafung
Von Gerrit Hoekman
Der Auftritt der Münchner Philharmoniker am 18. September in Gent sollte einer der Höhepunkte des »Festival von Flandern« sein. Am Donnerstag wurden die Musiker aus Bayern jedoch wieder ausgeladen, weil der Israeli Lahav Shani das Orchester dirigieren sollte. Der 36jährige ist auch Chefdirigent des israelischen Philharmonieorchesters. »Angesichts seiner Position können wir keine ausreichende Klarheit über seine Haltung dem Völkermord-Regime in Tel Aviv gegenüber schaffen«, begründeten die Organisatoren ihre Entscheidung. »Angesichts der aktuellen menschenunwürdigen Situation, die auch in unserer Gesellschaft zu emotionalen Reaktionen führt, halten wir es nicht für ratsam, das Konzert zu veranstalten«, heißt es in dem Statement. Mit der Absage wolle man »die Ruhe des Festivals bewahren und das Konzerterlebnis für Besucher und Musiker gewährleisten«. Es findet vom 12. September bis zum 2. Oktober statt.
Die Veranstalter verweisen auf den Aufruf flämischer Kulturhäuser, keine Partnerschaften mit israelischen Kultureinrichtungen einzugehen, »wenn sie sich nicht klar von der menschenrechtsverletzenden Politik der israelischen Regierung distanzieren«. Die flämische Kulturministerin Caroline Gennez rief am 25. August dazu auf, »nicht länger mit israelischen Institutionen zusammenzuarbeiten, außer sie stehen dem Regime kritisch gegenüber«.
Die Entrüstung aus Deutschland ließ nicht lange auf sich warten. »Lahav Shani tritt in seinem ganzen Wirken als Musiker und Mensch für Verständigung, Humanismus und Dialog ein. Israelische Künstlerinnen und Künstler unter Generalverdacht zu stellen und kollektiv zu bestrafen, lehnen wir entschieden ab«, erklärten die Münchner Philharmoniker. Bayerns Kulturstaatsminister Markus Blume (CSU) spricht laut dpa von »grobem Antisemitismus«. Die Entscheidung sei »eine Schande für Europa«, wettert der deutsche Staatsminister für Kultur und Medien, Wolfram Weimer. Unter dem Deckmantel vermeintlicher Israel-Kritik werde »ein Kulturboykott betrieben. Das ist blanker Antisemitismus.«
Der Vorwurf ist Tinnef. Die Münchner Philharmoniker werden nicht ausgeschlossen, weil ein Jude am Dirigentenpult steht. Es geht darum, dass Israel unter einer rechten Regierung in Gaza einen Krieg führt, den der größte Teil der internationalen Gemeinschaft inzwischen mit einigem Recht als Völkermord klassifiziert. Klug oder begrüßenswert macht das die Ausladungsentscheidung freilich nicht.
Wie scheinheilig die deutschen Reaktionen sind, verdeutlicht der Umstand, dass Lahav Shani nächstes Jahr in München die Nachfolge des Russen Waleri Gergijew antritt. Der hatte ab 2015 offenbar gute Arbeit geleistet, so dass sein Vertrag nach drei Jahren bis 2025 verlängert wurde. Am 1. März 2022 entließ man ihn jedoch vorzeitig – weil er den russischen Angriff auf die Ukraine nicht verurteilte. Am selben Tag annullierte die Bayerische Staatsoper das vereinbarte Engagement der russisch-österreichischen Sopranistin Anna Netrebko. Sie hatte zwar zwei Tage nach Beginn des Krieges betont, sie sei kein politischer Mensch und grundsätzlich gegen Krieg, aber die bayerischen Kulturfunktionäre verlangten mehr. Später teilte Netrebko noch mit, sie verurteile ausdrücklich den Krieg in der Ukraine.
In ihrer Erklärung bescheinigen die Veranstalter in Gent dem Dirigenten Lahav Shani, er habe sich in der Vergangenheit mehrfach für Frieden und Versöhnung ausgesprochen. Soweit dem Autor bekannt, hat er sich bislang nicht positiv zum israelischen Krieg gegen Gaza geäußert. Mehr von Künstlern zu verlangen und sie für die Politik der Regierung in ihrem Land zu bestrafen, ist albern. Egal, ob sie Shani, Gergijew oder Netrebko heißen.
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