Am Pranger
Von Manfred Hermes
Es müssen nicht unbedingt die übermäßig runden Gedenktage Auslöser für Erkenntnisse sein. Anfang November 2024 und damit punktgenau zu Pasolinis 49. Todestag traf mich eine »grâce du hasard«. Der Zufall führte mich in die Chausseestraße und so in die Ausstellung »Pier Paolo Pasolini. Porcili« im Neuen Berliner Kunstverein. Die hatte ich komplett aus den Augen verloren und hätte sie also beinahe verpasst.
Überrascht wurde ich von einer ambitionierten, sehr materialreichen Präsentation. Neben Bücherrücken, großformatigen Zeitungsseiten und vielen Doppelseiten in auflagenstarken Wochenmagazinen gab es Szenenbilder, Fotos von Dreharbeiten, vor Gerichtsgebäuden. Pasolini war aber nicht nur eine skandalöse Person, der drahtige kleine Mann war auch ein Star und Promi, der mit anderen Stars wie Maria Callas, Laura Betti, Orson Welles oder Anna Magnani gut bekannt war und in Restaurants, an Flughäfen oder Filmsets viel Futter für die Boulevardpresse lieferte.
Das waren die erwartbaren und doch glanzvollen Dokumente eines künstlerisch aktiven und als Schriftsteller, Filmer und Homosexueller sehr öffentlich verbrachten Lebens – bis hin zu den Fotos seiner entstellten Leiche oder des von Menschenmassen umbrandeten Sargs. Weniger erwartbar waren einige Originalkostüme, die ganz eigene Erinnerungs- und Wehmutswellen ausgelöst haben. Silvana Manganos blauer Madonnenumhang in »Decameron« oder die gepolsterten Hausmäntel, die die folternde Führungsriege in »Salò oder Die 120 Tage von Sodom« trug, in einer der brutalsten Sequenzen der Filmgeschichte, sie wirkten auch wie Reliquien einer früheren, sehr geschmackssicheren Kinematographie. Und was wären Pasolinis Filme ohne den herben Glamour gewesen, in dem selbst das Rustikalste und Archaischste extravagant war und komplett übertrieben wurde.
Beim ersten Besuch hatte ich kein Telefon zum Fotografieren dabei, also bin ich ein weiteres Mal zum n. b. k. gelaufen. Nun fiel mir auf einmal auf, dass mir das Konzept der Kuratoren Giuseppe Garrera und Cesare Pietroiusti entgangen war: Pasolinis Stellung als Schriftsteller, Filmemacher und Homosexueller vor dem Gesetz.
Im Grunde war die eng bedruckte Wand am Eingang ja deutlich genug gewesen. Bei der Textwüste handelte es sich um die akribische Auflistung aller Anklagen, Prozesse und Gerichtstermine, die in den 25 Jahren zwischen 1949 und 1974 Pasolinis Aufmerksamkeit erforderten, einschließlich der Bagatelldelikte und Revisionen.
1949 also mit der schwerwiegenden und für sein weiteres Leben bestimmenden Anklage wegen Verführung minderjähriger Jungen – damals lebte er noch als Lehrer und aktives PCI-Mitglied im friaulischen Casarsa. Die Wörter »atti osceni«, »Päderast«, »Verderber« sollten auch in Rom an ihm hängen bleiben, ihn viele weitere Jahre begleiten und zu Leitbegriffen späterer Anklagen werden.
Als sich die Gerichte ab 1955, seit »Ragazzi di vita« auch regelmäßig mit seinen künstlerischen Produktionen zu befassen begannen – und nach den Romanen kamen die Filme an die Reihe (auch diese Liste ist sehr lang) – lauteten die Vorwürfe ähnlich: »Pornographie« und »Obszönität«.
Eine gegen Kunstwerke anpolitisierende Justiz war das eine, Angriffe auf die Person waren etwas anderes. Hier hatte die Justiz ein mächtiges Gegenstück in der Boulevardpresse (mit aus heutiger Sicht traumhaften Auflagen), die für Pasolinis Skandale nicht nur Verstärker war, sondern die Skandale auch eigenhändig mitproduzierte. In den 50ern galt Homosexualität als schwerer Makel, eine Anklage war ein großes Ding. Auch in den 60er und 70er Jahren war es nicht lustig, als Drecksau der Nation durch die Straßen getrieben zu werden. Und wenn Pasolini seinen Ruf auch wie ein Ehrenzeichen tragen wollte und früh gelernt hatte, aus der Politisierung der Justiz selbst ein Politikum zu machen – die damals üblicherweise mit Scham, Schändung und Schande arbeitende Prangerpolitik konnte auch eine selbstsichere, mutige und beharrliche Person überbeanspruchen.
Die Skandalberichterstattung und Penetranz solcher Kampagnen hatte aber wohl auch eine noch viel gefährlichere Seite. Im nachhinein wirken sie wie Vorarbeiten zu Pasolinis Ermordung, die ohnehin eher einer Hinrichtung glich. Ohnehin wirkten die Koinzidenzen zwischen den Brutalitäten in »Salò« und den Umständen seines Todes schon damals ziemlich unheimlich, sie lassen einem bis heute das Blut in den Adern gefrieren.
Unheimlich war aber auch die Beständigkeit, mit der auch posthum die Dinge in den alten Bahnen weiterliefen. Zwei Tage nach Pasolinis Ermordung eröffnete die Justiz Verfahren wegen »Salò«. Auch die Boulevardpresse ließ noch nicht locker, und so titelte das Leutemagazin Gente sensibel mitteilsam: »Tragödie eines Verderbers« und schob eine Kaskade saftiger Unterzeilen nach: »Ragazzi di vita erzählen: ›Er hat uns gedemütigt, und wir haben ihn gehasst‹«! – »1949 – der erste Prozess wegen ›atti osceni‹«! – »Seine verrückten römischen Nächte«!
Boulevardpresse und Justiz haben nicht das letzte Wort behalten. Der Name Pasolini wird längst von seinem Werk her bestrahlt. Man würde ihm allerdings trotzdem manchmal etwas mehr Sichtbarkeit wünschen, als sie die Ausstrahlung des »Evangeliums nach Matthäus« vor Ostern mit sich bringt.
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