Chance genutzt
Von Wiebke Diehl
Man werde die Waffenruhe in Gaza »wieder einhalten«. So lautet die ebenso lapidare wie zynische Meldung des israelischen Militärs. Insgesamt 30 »Terroristen« will man in der Nacht zu Mittwoch getötet haben. Die Behörden in Gaza hingegen sprechen von mindestens 104 Todesopfern, darunter 46 Kinder. Getroffen wurden unter anderem Zelte Geflüchteter in dem als humanitäre Zone ausgewiesenen Gebiet Al-Mawasi. Allein 18 Mitglieder der Familie Abu Dalal mussten in Nuseirat mit ihrem Leben bezahlen.
Dass US-Präsident Donald Trump, dessen Waffenlieferungen und politische Unterstützung den Völkermord in Gaza erst ermöglicht haben, von »einem der größten Tage der Zivilisation« schwadronierte, als er die Einigung auf seinen 20-Punkte-Plan Ende September verkündete, war schon damals an Hybris und Scheinheiligkeit kaum zu überbieten. Seither hat Israel täglich Zivilisten getötet. Dass die übergebenen Körper palästinensischer Gefangener teils bis zur Unkenntlichkeit entstellt sind, beweist erneut, dass Palästinenser in den Augen der faschistischen Regierung in Tel Aviv weniger wert sind als Tiere. Und trotz der Waffenruhe werden weiterhin 85 Prozent der benötigten Hilfsgüter blockiert. All das stört die US-amerikanischen Freunde Netanjahus von Rubio bis Trump nicht, die die israelischen Militärangriffe noch befeuern und einen Bruch der Waffenruhe nicht erkennen wollen. Schließlich müssen auch die Hardliner Ben-Gvir und Smotrich, die eine Fortsetzung des heißen Kriegs wollen, ab und an auf ihre Kosten kommen.
Da ist auch allenfalls zweitrangig, ob der angebliche Auslöser für Israels bislang tödlichsten Schlag seit Abschluss des »großartigen« Trump-Deals überhaupt existiert. Jedenfalls beteuert die Hamas, mit der Tötung eines israelischen Soldaten in Rafah am Dienstag nichts zu tun zu haben. Aus Sicht Tel Avivs gilt: Chance erkannt, Chance genutzt. Denn das langfristige Ziel, die Bevölkerung Gazas zu vertreiben, hat man nicht aufgegeben. Und auch hier darf sich Israels Regierung des Einverständnisses Washingtons sicher sein.
Aufschlussreich ist auch eine von Al-Dschasira vor einigen Tagen veröffentlichte Analyse von Satellitenbildern: In dem ohnehin 58 Prozent des Gazastreifens umfassenden Gebiet, aus dem sich die israelische Armee laut dem Trump-Plan erst in einer späteren Phase zurückziehen muss, unterhält sie nicht nur etwa 40 aktive Militärstellungen. Bilder zeigen auch, dass die Modernisierung und der Ausbau dieser Stützpunkte in vollem Gange sind. Die Besatzung wird also tagtäglich verfestigt. Ein Wiederaufbau der Küstenenklave, die laut UNO unter 61,5 Millionen Tonnen Schutt, davon 4,9 Millionen Tonnen mit Asbest verseucht, begraben liegt, ist ohnehin nicht Teil des Plans – zumindest nicht, solange dort Palästinenser »leben«. Dass sich Washington und Tel Aviv auch darin einig sind, haben sie in den vergangenen zwei Jahren zur Genüge verdeutlicht.
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