Gläserner Arzt
Von Ralf Wurzbacher
Was soll die elektronische Patientenakte (ePA) nicht alles leisten? Sie soll Krankheiten vorbeugen, die Genesung fördern, im besten Fall Heilung bringen. Nun stellt sich heraus: Manchmal macht die ePA Menschen krank beziehungsweise kränker, als sie wirklich sind. Wie die Neue Westfälische (NW) am Dienstag berichtete, stoßen immer mehr Nutzer bei Sichtung ihrer ärztlichen Unterlagen auf unsaubere, übertriebene oder gar Phantomdiagnosen. Insbesondere betreffe dies Befunde aus dem Bereich psychischer Leiden, die mitunter frei erfunden seien. Dabei ist dies aus Expertensicht kein neues Phänomen, sondern eines, von dem Betroffene erst nach Einführung der Technik Kenntnis erlangen. Insofern bietet die ePA Transparenz, die es davor nicht gab.
Seit Jahresanfang 2025 ist die ePA für GKV-Versicherte Standard. Nur die wenigsten haben sich aktiv gegen ihre Einrichtung ausgesprochen. In ihr werden alle Behandlungsdaten an einem Ort gespeichert. Zugriff haben neben Medizinern, Therapeuten und Apothekern auch die Patienten. Ferner darf die Daten in pseudonomisierter Form grundsätzlich die öffentliche und private Forschung, etwa die Pharmaindustrie, verwerten. Damit hat die Gesundheitsökonomie einen entscheidenden Schritt mehr in Richtung gläserner Patient gemacht. Die Sache mit dem »gläsernen Arzt« ist bei all dem wohl nur ein Kollateralnutzen.
Für Anja Lehmann von der Stiftung Unabhängige Patientenberatung (UPD) sind Fehldiagnosen ein alter Hut – mit bisweilen fatalen Konsequenzen. Nach Auskunft der Juristin gegenüber dem Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) können falsche Angaben über chronische oder psychische Erkrankungen für Personen zum Verhängnis werden, die etwa vor einer Verbeamtung stehen, in eine private Krankenversicherung wechseln oder eine Berufsunfähigkeits- oder Lebensversicherung abschließen wollen. Mögliche Folgen sind die Ablehnung von Anträgen, höhere Kassenbeiträge oder Beschränkungen bei der Berufswahl. Die NW schilderte den Fall eines Bielefelders, dessen ePA die Diagnosen »akute Gastritis, Blutgerinnungsstörung, Ohnmachtsanfälle« enthielt. Aber »nichts davon trifft auf mich zu«, beschied er der Zeitung. Wie er herausfand, hatte sein Arzt die Befunde bei Routinekontrollen mit abgerechnet, ohne dies mit dem Mann besprochen oder entsprechende Medikamente verordnet zu haben.
Dass es bei den Vorgängen um systematischen Abrechnungsbetrug handelt, bestreitet man beim Hausärztinnen- und Hausärzteverband. Man kenne keine belastbaren Zahlen, dokumentiere Diagnosen »nach bestem Wissen und Gewissen«, Fehler könnten vorkommen, seien aber Ausnahmen, teilte die Standesvertretung mit. Gegenüber dem MDR nannte die Vorsitzende des Aktionsbündnisses Patientensicherheit, Ruth Hecker, andere Erklärungen: Übertragungsfehler beim Hochladen, die Verwechslung von Diagnosecodes, Vertipper oder »falsches Mapping (…), denn da arbeiten ja ganz viele elektronische Systeme zusammen«.
Die NW verwies dagegen auf ein Anreizsystem zwischen Krankenkassen und Ärzten, das zwecks besserer Vergütung zu Missbrauch verleiten würde. Vor zwei Wochen hatte das ZDF-Magazin Frontal über eine Häufung solcher Fälle berichtet. »Mittlerweile ist es nahezu Alltag, in fast jeder Anfrage sind irgendwelche Phantom- oder Falschdiagnosen beinhaltet«, äußerte in dem Beitrag Versicherungsmakler Shahryar Honarbakhsh. 2024 erfasste das Bundeskriminalamt bundesweit über 20.500 Fälle von Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen. Für 2022 und 2023 hat der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) im Bereich ärztlicher Leistungen eine Schadenssumme von rund 8,5 Millionen Euro ermittelt.
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