»Die Zeit reicht nicht für die Versorgung«
Interview: Max Grigutsch
Jemand liegt im Krankenhaus und die zuständige Pflegekraft weiß nicht, wo Verband, Spritze und Medikamente sind. Haben Sie so ein Szenario schon mal erlebt?
Zur Genüge. Der Pflegenotstand ist kein gesellschaftliches Geheimnis mehr. Die Zeit im Pflegealltag ist knapp. Wenn man dann die Sachen, die man braucht, nicht findet: Das kostet unfassbar viel Zeit. Aber das ist der Alltag jeder Leasingpflegekraft. Wenn ich jeden Tag woanders bin, kann ich mir nicht bei jeder einzelnen Klinik merken, wo was ist. Selbst wenn ich in der Klinik schon 20 Mal war – das geht einfach nicht.
Sie kommen morgens in eine neue Klinik, kennen sich nicht aus. Wie werden Sie eingearbeitet?
Das kommt auch darauf an, wer davor Dienst hatte. Entweder bekommt man eine sehr kurze Führung durch die Station oder gar keine. Die Zeit der anderen Pflegekräfte ist begrenzt, dafür können sie nichts. Man kann an eine wohlwollende Pflegerin geraten. Die nimmt sich dann noch die letzten fünf Minuten ihrer Schicht, rennt einmal mit dir über die Station und zeigt dir, wo der Defibrillator steht. Ich habe schon erlebt, dass man den bei einer Reanimation erst mal gesucht hat. Das ist der Super-GAU.
Wie treten Sie dann an die Patientinnen und Patienten heran?
Die Übergabe geht sofort los. Es geht direkt ans Eingemachte. Da gibt es dann kein »Ich erkläre dir noch den Stationsstandard«. Den bekommt man höchstens als Dokument, aber es fehlt auch die Zeit, sich da einzulesen. Es heißt: ankommen und los, als würde man sich komplett auskennen. Das wird vorausgesetzt.
Reicht diese Einarbeitung aus?
Nein. Vielleicht lag es daran, dass ich nicht routiniert genug gewesen bin. Ich war auch nur in Teilzeit tätig. Aber auch diejenigen, die Vollzeit gearbeitet haben, hatten wirklich Schwierigkeiten. Die Zeit reicht nicht für die Versorgung. Ich hatte in den Diensten teilweise bis zu 35 Patientinnen und Patienten, auch nachts. Doch nachts müssen die Leute ebenfalls gedreht und gelagert werden, und man ihnen Inkontinenzmaterial anlegen. Ich ziehe den Hut vor jeder Pflegekraft, die das bei 35 Personen gleichzeitig schafft.
Sie konnten keine passende Pflege gewährleisten?
Auf keinen Fall. Ich konnte es nicht mehr ertragen, jeden Tag von der Arbeit heimzukommen und nicht die adäquate Pflege geleistet zu haben. Wir Pflegekräfte sind ja auch das Bindeglied zwischen den verschiedenen Berufsgruppen in der Klinik – Physiotherapeutinnen, Ärztinnen, Logopädinnen und so weiter. Das wissen viele nicht. Und das Zwischenmenschliche, weswegen viele in die Pflege gehen, das bleibt sehr zurück. Bei sterbenden Patientinnen hätte ich gerne mal eine Hand gehalten, anstatt beim nächsten Durchgang zu merken: Oh, jetzt ist sie wohl tot.
Eine Bekannte, die regelmäßig im Krankenhaus ist, wusste gar nichts vom Tagesleasing – und regt sich tierisch darüber auf. Spiegeln Ihnen die Patientinnen und Patienten das wider?
Ich sage von vornherein, dass ich eine Leihkraft bin. Ich sage: »Bitte entschuldigen Sie, wenn es heute ein bisschen länger dauert. Wir geben alle unser Bestes.« Ich sage auch, wie viel Pflegepersonal da ist, damit die Patientinnen ein gewisses Bewusstsein dafür haben. Aber das ist nicht deren Aufgabe. Sie sind krank, ihnen geht es schlecht, sie haben Schmerzen, ihnen ist übel. Sie sollten keine Gedanken daran verschwenden müssen, ob sie versorgt werden. Ihre Frustration ist durchaus berechtigt.
Ist das patientengerecht?
Schon lange nicht mehr. Man kann versuchen, die Probleme zu vertuschen, aber langfristig funktioniert das nicht. Vor allem nicht, wenn zu jedem Dienst wer Neues kommt. Meine Mutter ist seit 35 Jahren Krankenschwester. Schon sie hat wenig positive Entwicklung gesehen. Und auch ich habe in meiner Zeit in der Pflege keine gesehen.
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