Bis die Ohren schlackern
Von Marc Hieronimus
Es ist mathematisch offensichtlich und doch kurios: Zwischen den epochemachenden Jahren 1918 und 1968 liegen tatsächlich nur fünf Jahrzehnte, und einige der relevanten Geistesgrößen der auf halbem Weg gescheiterten studentischen und kulturellen Revolution waren im und kurz nach dem Ersten Weltkrieg schon in der einen oder anderen Art mit dabei. Dazu zählt auch der in seinen späten Jahren so einflussreiche Philosoph Herbert Marcuse, dem nun eine Comicbiographie gewidmet ist. Marcuses Anfänge waren wenig heldenhaft. Aufgrund seiner schlechten Augen »putzte er vier Jahre lang Pferdeärsche«, wie er es selbst beschrieb, politisierte sich aber zunehmend im Kontakt mit sozialistischen Soldaten und vollends beim Verrat der Revolution 1919. Er las Marx, Freud, Hegel, Goethe, studierte Literatur und Politische Philosophie, promovierte über den deutschen Künstlerroman und seine Dimension der Befreiung des Individuums von gesellschaftlichen Zwängen, lernte durch Studium und Lesekreise in Berlin Georg Lukács kennen, in Freiburg Husserl und bei Heidegger Hans Jonas und Hannah Arendt, in Frankfurt am Main Horkheimer, Adorno, Löwenthal, Neumann, Fromm, im US-amerikanischen Exil Brecht, Weill, Lang und zahlreiche andere Intellektuelle, die der Autor und Zeichner in mal mehr, mal weniger ausführlichen Anmerkungen vorstellt.
In diesem Pantheon – oder für die Gegenseite: Pandämonium – linker Geister der Weimarer Republik und des Exils vermisst die einschlägig gebildete Philosophin vielleicht den Literaturwissenschaftler Ludwig Marcuse, der mit Herbert nicht verwandt, doch leicht zu verwechseln ist, gewiss aber Ernst Bloch und Günther Anders, die dieselben Frankfurter bzw. Freiburger Verbindungen hatten und sich zeitlebens mit den Marcuse-Themen Utopie bzw. Entfremdung durch Technik beschäftigt haben. Dann wiederum sind einer illustrierten Biographie auch Grenzen gesetzt und weniger vorentlastete Leser, zumal US-amerikanische, an die sich das Buch zuerst richtete, von einer Gesamtschau der emigrierten Intellektuellen schnell überfordert.
Zu seiner heutigen Berühmtheit gelangte Marcuse erst in den Sechzigern mit den gesellschaftsanalytischen Schriften »Triebstruktur und Gesellschaft« und »Der eindimensionale Mensch«, aber auch durch sein politisches Engagement nicht zuletzt für und an der Seite von Angela Davis, deren Schrift »Frauen und Kapitalismus« ihn sehr beschäftigt hat. In den letzten Jahren seines Lebens kehrte er unter dem Eindruck des Scheiterns der 68er-Bewegung und der Anfeindungen gegen ihn und andere Protagonisten der Bewegung zurück zum Thema Kunst und Befreiung.
Von all dem liest man in kondensierter Form in der Biographie beim Münsteraner Unrast-Verlag. Deren Autor Nick Thorkelson ist politischer Cartoonist. Er schafft also nicht vollendete Kunstwerke für große Comicverlage, sondern karikatürlich anmutende Geschichten und Illustrationen für kapitalismuskritische Zeitschriften wie Dollars & Sense. Das ist noch nicht »ligne crade«, also der schmutzige Strich von Reiser oder Vuillemin, aber durchaus »ligne rapide«, der schnelle Stil der Tages- und Wochenzeitungen, zuzüglich Dekor und reichlich Text.
Thorkelson hat Marcuses Angehörige interviewt und viel recherchiert, weshalb auch die Kennerin noch einiges über den Menschen und sein Werk lernen kann: Marcuses Beliebtheit bei den Frauen, seine Bewunderung für, dann Enttäuschung über Heidegger, den so viele kluge junge Menschen bis 1933 verehrt haben, sein Zerwürfnis mit Erich Fromm und vieles mehr. Was – vielleicht zwangsläufig – scheitert, ist der Versuch, über eingeflochtene Zitate Marcuses philosophische Ansätze und deren Unterschiede zu denen seiner Zeitgenossen zu vermitteln. Das Medium Comic kann Geschichte und Geschichten veranschaulichen (und gilt darum ja vielen als Ersatzlektüre für Lesefaule), kaum aber Philosophie. Vielmehr schlackern dem Leser ob all der Namen und literarischen Versatzstücke nur die Ohren. Es hilft also nichts: Wir müssen wieder mehr Marcuse lesen.
Nick Thorkelson: Herbert Marcuse. Eine illustrierte Biographie. Aus dem Englischen von Marie Treperman. Mit einem Vorwort von Angela Y. Davis. Unrast-Verlag, Münster 2025, 128 Seiten, 18 Euro
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