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Aphasie

Von Helmut Höge
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Mit der Aphasie wird eine Hirnschädigung bezeichnet, die lautsprachliche Äußerungen und das Sprachverständnis erschwert und sogar unmöglich macht. Auf der »Aphasiestation« einer New Yorker Klinik lief im Aufenthaltsraum der Fernseher. Als eine Rede des US-Präsidenten übertragen wurde, fingen alle Patienten an zu lachen. Der Neurologe Oliver Sacks, der dies sah, schreibt in seiner Fallsammlung »Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte« (1987): »Man drückt die Bedeutung dessen, was man sagen will, mit dem ganzen Körper aus, und das Verständnis dieser Äußerungen erfordert weit mehr als die bloße Identifizierung von Worten. Menschen, die an Aphasie leiden, greifen diese Hinweise auf und verstehen das Gesagte, auch wenn die Worte für sie unverständlich bleiben.« Aufgrund ihres fehlenden »Wortverständnisses« sind bei ihnen die nichtverbalen Anteile an einer Rede überdeutlich verständlich. Bei verbalen Äußerungen, »die von Emotionen begleitet sind«, ist ihnen »die Bedeutung völlig klar, auch wenn sie kein einziges Wort verstanden haben«.

Nietzsche notierte: »Man lügt wohl mit dem Munde; aber mit dem Maule, das man dabei macht, sagt man doch die Wahrheit.« Jeder von uns kennt das, wenn man in einem Land ist, wo man die Sprache nicht versteht, und sich trotzdem mit den Einwohnern verständigt, indem man ihre Mimik, Gestik und den Tonfall deutet und darauf reagiert.

Man weiß inzwischen: Noch besser als wir im Ausland und die Aphasiker in der Klinik besitzen Hunde diese Interpretationsfähigkeit. Deswegen kann man sie, aber auch Aphasiker, nicht belügen. Man kann sie mit Worten nicht täuschen.

Die Pavianforscherin Barbara Smuts berichtet in »Sex and Friendship in Baboons« (1985), dass sie zunächst die Paviankommunikation wenigstens annähernd verstehen musste. Als sie das schließlich im Hinblick auf die 123köpfige Affenhorde einigermaßen positiv beantworten konnte und ihre Forschung dementsprechend voranschritt, kam sie zu dem Schluss, den auch viele andere Ethologinnen äußern, dass die nichtsprachliche Kommunikation, bei der sich die Körper über Blicke und Grüße »eng austauschen«, der sprachlichen Verständigung in puncto Ehrlichkeit und Wahrheit überlegen ist.

Demnach scheint in der Kommunikation eine auf die Beteiligten unmittelbar bezogene Reziprozität der Gesten und Laute stabilere Gemeinschaften zu schaffen als der Austausch von Äquivalenten in unserer warenförmigen Sprache. Anders gesagt: Der Affe favorisiert soziale Erfindungen, der moderne Mensch mathematisch-technische, die auf Sprache und Zahlen beruhen.

Zurück zu den New Yorker Aphasikern, von denen eine über die Rede des Präsidenten sagte: »Er ist nicht überzeugend.« Viele Politiker legen sich deswegen einen Redetrainer zu, der versucht, ihnen eine gewisse Stimmigkeit zwischen Redeinhalt und Tonfall beizubringen. Außerdem üben sie immer wieder vor einem Spiegel und hören sich Tonaufnahmen von ihrem Gerede an. Sie wissen, »dass die Politik die Unterhaltungsabteilung des militärisch-industriellen Komplexes ist«, wie Frank Zappa meinte.

»Das also war das Paradoxon der Präsidentenrede«, schreibt Oliver Sacks. »Wir Normalen wurden zweifellos, beeinflusst durch unseren Wunsch, hinters Licht geführt zu werden, tatsächlich und gründlich hinters Licht geführt. Die Täuschung durch die Worte war, im Verein mit der Täuschung durch den irreführenden Tonfall, so gekonnt, dass nur die Hirngeschädigten davon unbeeindruckt blieben.«

Sacks erwähnt einen anderen Fall, einen jungen Arzt, der viele Drogen nahm und eines Tages träumte, er sei ein Hund, der die Welt über Gerüche wahrnimmt. Beim Aufwachen hatte er ein derart verstärktes Geruchsempfinden, dass er alle seine Freunde am Geruch identifizieren konnte. Seine 20 Patienten in der Klinik erkannte er noch, bevor er sie sah, an der ihnen eigenen »olfaktorischen Physiognomie«. Jeder hatte ein »Duftgesicht, das weitaus plastischer und einprägsamer, weitaus assoziationsreicher war als sein wirkliches Gesicht«

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