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Aus: Ausgabe vom 21.10.2025, Seite 10 / Feuilleton
Jazz

Interaktion mit der Lyra

Mit Bartók gegen das Dur-Moll-Dogma: Das neue Album »Topos« von Sokratis Sinopoulos und Yann Keerim
Von Andreas Schäfler
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Klein, aber oho: Lyra und Sokratis Sinopoulos

Wer sich an den »Bienenzüchter« oder an andere Filme von Theo Angelopoulos erinnert, hat sofort wieder die Musik von Eleni Karaindrou im Ohr: jene verführerischen Melodiekürzel, die aus den statischen Breitwandbildern der balkanischen Landschaft aufsteigen, sich verspielt hochschaukeln und elegisch um sich greifen. In den Ensembles der führenden griechischen Filmkomponistin hat Lyraspieler Sokratis Sinopoulos des öfteren mitgewirkt, mit dem Pianisten Yann Keerim unterhält er auch ein jazzorientiertes Quartett, und im Duo mit Keerim kommt er jetzt auf den Punkt – auf den »Topos« in dessen multipler Wortbedeutung: Ort, Heimat, Thema, Übereinkunft.

Die Topographie Südosteuropas als Seelenzustand, der in Klang überführt wird. Da sind dann auch Béla Bartóks »Sechs rumänische Volkstänze« in Reichweite, die so etwas wie ein Gründungsdokument der Weltmusik darstellen – wenn die denn so etwas überhaupt nötig hat. Als der berühmte ungarische Komponist sie vor mehr als 100 Jahren aus seinen Field Recordings im heutigen Siebenbürgen destillierte, war das in der Beletage der Musikszene allerdings ein unziemlicher Affront.

Zum Einstieg spielt das Duo zwei eigene Miniaturen, mit zunächst nur kleinen Dosen flirrender Obertöne von der Lyra und zaghaften Tupfern vom Klavier. Wer da vielleicht noch fremdelt, vergisst solche Vorbehalte bald, denn die Zwiegespräche der ungleichen ­Instrumente entwickeln eine dynamische Farbenpracht. Bartóks Stücken (die zunächst für Klavier, dann auch für Orchester geschrieben wurden) nähern sich die beiden Musiker quasi von hinten her, de- und rekonstruieren sie aus möglichst freien Ansätzen heraus. Sinopoulos schaut ohnehin auf eine lange Beschäftigung mit ihnen zurück, hat er sich doch vor zehn Jahren im schottischen Ensemble von Jonathan Morton intensiv an den Originalversionen abgearbeitet.

Für seinen vermeintlichen Flirt mit der Volksmusik wurde Bartók seinerzeit nicht wenig verlacht, von den Traditionalisten wie auch den Avantgardisten der Komponistenzunft. Doch während ein Strawinsky später bei den Nazis flehentlich (aber erfolglos) darum bettelte, von der Liste »entarteter« Komponisten wieder gestrichen zu werden, bat Bartók entschieden um Aufnahme (und wurde erhört). Die Zeit hat seitdem allerdings sehr für ihn gearbeitet. Der formale Reichtum gerade der slawischen und der mediterranen Volksmusik ist längst anerkannt und verheißt bis heute eine improvisatorische Freiheit sondergleichen. Bartók selbst hatte das Erlösungspotential schon in der Aufhebung des notorischen Dur-Moll-Dogmas erkannt.

Kreuz und quer auf dem Balkan pflegten sich die verschiedenen Volksmusikstile schon immer über territoriale Grenzen und andere Obrigkeitsbestimmungen hinweg fortzupflanzen. Pianist Yann Keerim, der aus dem nordwestgriechischen Ioannina stammt, ist speziell mit der Volksmusik aus dem Epirusgebirge vertraut, wohin sich Klaviere erst spät verirrt haben dürften. »Wenn man mit der Lyra interagiert, muss man ihre Geschichte respektieren«, betont er und tarnt sein Spiel in einigen Begleitpassagen denn auch so geschickt, dass man eher ein paar Takte vom Hackbrett, dann einen Harfenstreich oder sogar mal Leierkastentöne zu vernehmen meint.

Sinopoulos und Keerim reizen sowohl die Verwandtschaft als auch das Gegensätzliche ihrer Saiteninstrumente voll aus: Gegen ein ausgewachsenes Klaviermöbel nimmt sich die Lyra ja wie ein bedauernswerter Winzling aus. Doch wehe, wenn sie losgelassen! Sinopoulos sorgt für mal gestrichene, mal gezupfte und auch rhythmisch verblüffende Turbulenzen, schäumt aber vor lauter Virtuosität nur selten so über, wie das die kretischen Kniegeiger gern praktizieren.

Um die ideellen Chancen für eine gute Verbreitung des Albums braucht einem nicht bange zu sein. Die Intimität dieses Duos verlautbart sich vollkommen genreunabhängig und hat keine populistische Anbiederung nötig, um den »Topos« seiner Musik auch hierzulande zu etablieren.

Sokratis Sinopoulos, Yann Keerim: »Topos« (ECM)

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