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Aus: Ausgabe vom 01.11.2025, Seite 15 / Geschichte
Westsahara

Schwarzer Marsch

Vor 50 Jahren fielen Marokko und Mauretanien in die Westsahara ein
Von Jörg Tiedjen
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Um von der militärischen Invasion abzulenken, inszenierte Marokko den »Grünen Marsch« (Tarfaya, 6.11.1975)

Es war ein gewaltiges Täuschungsmanöver. Am 6. November 1975 drangen Zehntausende Marokkaner unter den Augen Hunderter Journalisten in die Westsahara vor. Sie besetzten einen verlassenen Grenzposten, schwenkten marokkanische Fahnen, riefen »Die Sahara gehört uns!« oder »Spanien raus!« und trugen Koranausgaben vor sich her. Zwar kam der Zug schon nach wenigen Stunden zum Erliegen. Doch das Kalkül ging auf: In aller Welt wurde über den »Grünen Marsch« und die Ansprüche des Königreichs auf die damalige spanische Überseeprovinz berichtet.

Das spanische Militär hatte sich einige Kilometer zurückgezogen und versperrte den Demonstranten den Weg. Sie waren davon ausgegangen, sie könnten bis zur Stadt El Aiún gelangen. Marokkanische Polizei unterband jedoch einen Durchbruchsversuch. Die Teilnehmer hatten auch gedacht, dass Marokkos König Hassan II. sie anführen würde. Doch der Monarch war aus Sicherheitsgründen in seiner »Kommandozentrale« in der Stadt Agadir verblieben, von wo aus er am Vortag den Aufbruch angekündigt hatte. Am 7. November startete ein weiterer Zug, der ebenfalls nicht weit kam. Zwei Tage später dann erklärte Hassan II. die Aktion für beendet und behauptete, dass das anvisierte Ziel mehr als erreicht worden sei.

Für die Propagandaschau hatte Hassan II. im Oktober 350.000 Marokkaner mit Zügen und Lkw an die Grenze zur Westsahara bringen lassen, überwiegend arme Leute vom Land, die ein Tagegeld erhielten. Auch Zehntausende Beamte waren abgeordnet. Gegenüber seinem Biographen Éric Laurent behauptete Hassan II., ihm sei die Idee im Sommer im Traum gekommen. Allerdings war der »Schwarze Marsch«, wie er in der Westsahara genannt wurde, Teil einer größeren Operation, die der König seit dem Vorjahr mit Truppenverlegungen an die Südgrenze vorbereitete: der gewaltsamen Okkupation.

Was der Weltöffentlichkeit zunächst verborgen blieb: Schon eine Woche zuvor hatten marokkanische Truppen am 30. Oktober weiter östlich eine Invasion gestartet. Die spanische Armee überließ ihnen ihre Stellungen. Wenig später begann Mauretanien, den Süden der Westsahara zu besetzen. Nur die Befreiungsfront Polisario, die seit ihrer Gründung zwei Jahre zuvor gegen die spanische Herrschaft kämpfte, leistete Widerstand. Sie schien kein ernstzunehmender Gegner. Hassan II., der die USA und Frankreich hinter sich wusste, rechnete mit einer Militäraktion von zwei Wochen. Doch es wurde im Gegenteil einer der längsten Kriege der arabischen Welt.

Zwei Könige

Der Konflikt um die Westsahara hatte sich 1975 immer weiter zugespitzt. Das franquistische Spanien hatte angekündigt, das Gebiet zu dekolonisieren. Eine UN-Beobachtermission hatte ergeben, dass die einheimische Bevölkerung der Sahrauis die Unabhängigkeit befürwortete. Überall war sie von Anhängern der 1973 gegründeten Polisario-Front begrüßt worden. Noch am 22. Oktober traf eine Madrider Regierungsdelegation eine Übereinkunft mit der Polisario, die den »Weg in die Unabhängigkeit« regeln sollte. Auf Drängen Marokkos und Mauretaniens selbst war ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zur Klärung des Rechtsstatus der Westsahara angefordert worden. Der Entscheid wurde am 16. Oktober verkündet und wies alle marokkanischen und mauretanischen Ansprüche auf die Westsahara zurück. Doch am gleichen Tag verkündete Hassan II. im Rundfunk das genaue Gegenteil und sprach davon, dass man nur noch in die »marokkanische Sahara« zu gehen brauche, um sie heimzuholen.

Hassan II. stand damals mit dem Rücken zur Wand. 1971 und 1972 hatte er mit Glück zwei Putschversuche überlebt. Der Westsahara-Konflikt bot ihm die Gelegenheit, sich an die Spitze eines Projektes der Nationalisten zu stellen und die Armee buchstäblich in die Wüste zu schicken. Hinzu kamen wirtschaftliche Gründe. Marokko stand vor dem Bankrott, da die Einnahmen aus dem Phosphatexport eingebrochen waren. Die Westsahara birgt unter ihrer Erde wertvolle Ressourcen, darunter große Vorkommen an Phosphat. Die Hoffnung war, als Marktführer die Preise bestimmen zu können.

Nicht zuletzt war es eine seltene Gelegenheit. Ende Oktober erlitt der spanische Diktator Francisco Franco eine Herzattacke und lag auf dem Sterbebett. Er war gegen eine Übernahme der Westsahara durch Marokko oder Mauretanien. Sein designierter Nachfolger Juan Carlos aber konnte zu Beginn seiner Regentschaft eine Krise mit Marokko nicht gebrauchen. Während die franquistischen Behörden noch behaupteten, sie würden die Westsahara, wie von der UNO verlangt, dekolonisieren, kamen auf Druck Frankreichs und der USA Vertreter Spaniens, Marokkos und Mauretaniens zusammen und unterzeichneten am 14. November den völkerrechtswidrigen »Vertrag von Madrid«. Unter Wahrung ökonomischer Interessen Spaniens wurde die Westsahara der Willkür Marokkos und Mauretaniens überlassen. Angesichts des Kalten Kriegs sollten eine sozialistische Befreiungsfront verhindert, Hassan II. gestärkt und die Bourbonendynastie neu begründet werden.

Masken gefallen

Die sahrauischen Zivilisten waren im unklaren darüber, was geschah. Die spanischen Siedler waren bereits evakuiert worden, Anfang 1976 wurden auch die Reste des spanischen Militärs abgezogen. Die marokkanischen Invasionstruppen gingen mit brutaler Gewalt gegen die Sahrauis vor. Viele versuchten, ins Landesinnere zu fliehen, das die Polisario-Front kontrollierte. Marokko griff Flüchtlingslager mit Napalm und Phosphorbomben an. Den meisten blieb nur, nach Algerien auszuweichen, wo viele Sahrauis bis heute in der Steinwüste bei Tindouf in Flüchtlingslagern leben. Nach dem Abzug der Spanier rief die Polisario-Front, die auch von Libyen und Kuba unterstützt wurde, die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) aus. Militärisch konzentrierte sie ihre Angriffe zunächst auf Mauretanien – mit Erfolg. 1979 war das Land zerrüttet, und Präsident Moktar Ould Daddah wurde durch einen Putsch gestürzt. Die neue Regierung erkannte die DARS an und schloss mit ihr einen Friedensvertrag. Vergeblich hatte Frankreich Mauretanien mit der Luftwaffe beigestanden.

Marokko besetzte auch den Rest des Landes. Aber immer wieder gelangen der Polisario-Front spektakuläre Siege. Schließlich wurde mit israelischer, saudischer und US-Hilfe eine 2.700 Kilometer lange Befestigung quer durch die Westsahara errichtet, die von geschätzten 100.000 Soldaten bewacht wird. Wirtschaftlich am Boden, willigte Marokko 1991 in einen Waffenstillstand und ein Unabhängigkeitsreferendum ein. Die UNO zeigte sich allerdings machtlos, es durchzusetzen. 2020 erklärte die Polisario-Front nach einem marokkanischen Bruch des Waffenstillstandsabkommens die Wiederaufnahme der Kampfhandlungen. Mittlerweile haben sich mit den USA, Frankreich und Großbritannien drei UN-Vetomächte hinter einen von Marokko propagierten »Autonomieplan« für die Westsahara gestellt. Doch die Täuschung, die mit dem »Schwarzen Marsch« begonnen hatte, und der Völkerrechtsbruch können nicht endlos weitergehen.

Der große Verrat

Am 14. November 1976 hielt Felipe González, Generalsekretär der Sozialistischen Arbeiterpartei Spaniens (PSOE), bei einem Besuch der sahrauischen Flüchtlingslager in Tindouf eine historische Rede: »Wir wollten heute hier sein, um mit unserer Anwesenheit unsere Ablehnung und Missbilligung des Madrider Abkommens von 1975 zu demonstrieren. Das sahrauische Volk wird in seinem Kampf siegen. Es wird siegen, nicht nur, weil es im Recht ist, sondern weil es den Willen hat, für seine Freiheit zu kämpfen. Ich möchte, dass ihr wisst, dass der größte Teil des spanischen Volkes, der edelste, der beste Teil, solidarisch mit eurem Kampf ist. (…) Wir schämen uns, dass die (spanische) Regierung nicht nur eine schlechte Kolonialisierung betrieben hat, sondern eine noch schlechtere Entkolonialisierung, indem sie euch in die Hände reaktionärer Regierungen wie denen Marokkos und Mauretaniens gegeben hat. Aber ihr sollt wissen, dass unser Volk auch gegen diese Regierung kämpft. (…) Wir wissen, dass ihr viele nie eingehaltene Versprechen erhalten habt. Ich verspreche euch nichts, sondern verpflichte mich gegenüber der Geschichte: Unsere Partei wird euch bis zum endgültigen Sieg zur Seite stehen!« Doch González selbst missachtete als Premierminister diese »Verpflichtung« und stellte sich hinter die marokkanische Monarchie. So ist es bis heute geblieben.

elviejotopo.com/topoexpress/palabras-de-felipe-gonzalez

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