Freiheit aus den Gewehren
Von Jörg Tiedjen
Die Revolution wäre fast gescheitert, noch bevor sie begonnen hatte. Zuerst gerieten El Ouali Mustapha Sayed und Brahim Ghali mit vier weiteren Kameraden in eine Polizeikontrolle. Sie hatten Glück und konnten passieren. Dann der nächste Fehlschlag. Mehrere Tage lang waren sie in der Wüste im Norden der Westsahara unterwegs, nachdem sie sich mit einer zweiten Gruppe zusammengeschlossen hatten. Sie waren insgesamt sechzehn, hatten fünf alte Gewehre aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, wie sie von den Nomaden noch zum Jagen verwendet wurden, und zwei Dromedare. Die Munition reichte für einen kurzen Schusswechsel. El Ouali und ein weiterer Mitstreiter ritten auf der Suche nach Wasser voraus – und wurden von einer Patrouille gestellt und zum Posten von Khanga mitgenommen. Brahim Ghali befahl, ihn einzunehmen. Es gelang einem Trupp, sich unbemerkt anzunähern. Die sechs spanischen Polizisten, allesamt Sahrauis, waren ahnungslos und ergaben sich. Es war der späte Abend des 20. Mai 1973.
Die Soldaten wurden freigelassen, nicht bevor man sie über die Ziele des Aufstands unterrichtet hatte. Die Kämpfer erbeuteten moderne Waffen, Munition und sechs Kamele, von denen sie den Freigelassenen eines überließen. Auf die Wände schrieben sie Parolen und den Namen der frisch gegründeten Bewegung: Volksfront zur Befreiung von Saguía el Hamra und Río de Oro, wie die beiden großen Regionen der Westsahara genannt werden. »Wir wollen die Freiheit!«, stand daneben zu lesen. »Unabhängigkeit!«, »Der Befreiungskrieg wird von den Massen getragen!« Schließlich: »Die Freiheit kommt aus den Gewehren!« Mit diesem flammenden Satz endete auch die »Gründungserklärung« der Frente Polisario, die El Ouali zum Abschluss eines dreitägigen Treffens am 1. Mai verfasst hatte. Brahim Ghali, der seit einigen Jahren wieder der Polisario vorsteht, war damals zu ihrem ersten Generalsekretär gewählt worden.
Das Manifest
»Kolonialmächte verstehen nur militärischen Kampf«, sagt Bilahi Sid im Rückblick, ein Zeitzeuge, der heute eine leitende Funktion in den Flüchtlingslagern der Sahrauis beim algerischen Tindouf innehat. »Alle friedlichen Versuche, sei es durch spontane Bewegungen oder aufgezwungene Organisationen«, mit der Kolonialmacht ein Ende der Besetzung auszuhandeln, waren gescheitert, heißt es entsprechend im ersten Manifest der Front. Gemeint sind die Befreiungsbewegung des Mohammed Bassiri, die brutal niedergeschlagen wurde, und die sahrauischen Parteien, die das franquistische Madrid förderte, um die Illusion demokratischer Reformen und einer Anerkennung der Rechte der Sahrauis in der letzten großen spanischen Kolonie, offiziell ein Überseedepartement, zu erzeugen. Marokko würde später diesem Beispiel folgen und ähnliche Institutionen ins Leben rufen. »Sie haben sie gegründet, um die Sahrauis zu schwächen«, meint Salma Bouchaib, frühes Mitglied der Polisario-Front und bedeutende Politikerin der Sahrauis.
Die Befreiungsfront wende »revolutionäre Gewalt und bewaffnete Aktionen an, um das arabisch-afrikanische sahrauische Volk zur umfassenden Befreiung vom spanischen Kolonialismus zu bringen«, heißt es weiter. Sie begreife sich als »Teil der arabischen Revolution« und »unterstützt den Kampf der Völker gegen Kolonialismus, Rassendiskriminierung und Imperialismus«. Die »Zusammenarbeit mit der algerischen Revolution« wird als »elementar« bezeichnet, »um die Verschwörungen gegen die ›dritte Welt‹ zu beenden«, was ins Auge fällt, denn erst Jahre später sollte Algerien den Sahrauis Gehör schenken. Am 10. Mai 1973 wurde die Erklärung der Nachrichtenagentur AFP in der mauretanischen Hauptstadt Nouakchott übergeben. Datiert war sie auf denselben Tag, ein Datum, an dem auch in diesem Jahr der Gründung der Polisario-Front gedacht wurde, obwohl sie strenggenommen am 1. Mai stattgefunden hatte. Die senegalesische Zeitung Le Soleil soll die erste gewesen sein, von der die Nachricht damals verbreitet wurde. Der 20. Mai wiederum ist in der von der Polisario-Front gegründeten Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS) der Nationalfeiertag zum Beginn des bewaffneten Kampfs. Auch die schon Ende Mai 1973 gegründete Zeitschrift der Jugendorganisation der Polisario-Front trägt den Namen 20. Mai.
Treffen der Generationen
Die Polisario-Front war die militante Fortführung der Befreiungsbewegung Harakat Tahrir, die der Journalist und Schriftsteller Mohammed Bassiri in den 1960er Jahren in der Westsahara ins Leben gerufen hatte. Zugleich steht sie in einer alten Tradition. Das zeigt sich an ihrer Gründungsversammlung, die am 29. April in der mauretanischen Bergarbeiterstadt Zouérat einberufen wurde. Mehrere Generationen des Widerstands und verschiedene Gruppen von Sahrauis aus der Westsahara selbst und aus Marokko und Algerien waren vertreten. Auch Frauen waren darunter. Einige der mehr als zwanzig Teilnehmer lebten schon seit Ende der 1950er Jahre in Zouérat. Sie waren ehemalige Kämpfer der Befreiungsarmee (Dschaisch Tahrir, in Marokko meist Nationale Befreiungsarmee genannt). Sie war ursprünglich das marokkanische Pendant zur algerischen Armée de libération nationale. Ziel war, den gesamten Maghreb von der Kolonialherrschaft zu befreien und den Kampf der Algerier zu unterstützen. Zahlreiche Sahrauis hatten sich ihr angeschlossen. Doch die Befreiungsarmee wurde kontrolliert von der marokkanischen Unabhängigkeitspartei (Istiqlal). Deren Führer Allal Al-Fassi war Islamist und Nationalist zugleich und stritt für ein »Großmarokko«.
Al-Fassi war ein treuer Anhänger der marokkanischen Monarchie. Die war allerdings noch nicht gefestigt und sah in der Befreiungsarmee eine Bedrohung. Die Westsahara stand damals nahezu komplett unter ihrer Kontrolle. In Mauretanien griff die Befreiungsarmee die französischen Truppen an. Anfang 1958 wurde sie jedoch in der Westsahara durch die spanisch-französische Operation »Écouvillon« aufgerieben. Diese richtete sich nicht allein gegen militärische Verbände. Sie war ein Massaker an den Nomadenstämmen, deren Lebensgrundlagen zerstört wurden. Die marokkanische Monarchie unterstützte die Operation und zerschlug die Reste der Befreiungsarmee.
Der Widerstand der Sahrauis war damit nicht gebrochen. Die von Mohammed Bassiri gegründeten Harakat Tahrir vertraten das Prinzip der Gewaltlosigkeit. Als aber am 17. Juni 1970 in Zemla bei El Aiún, der Hauptstadt der Westsahara, ein Zeltlager errichtet und Proteste organisiert wurden, wobei Brahim Ghali eine führende Rolle einnahm, ließ Spanien die Fremdenlegion antreten und auf die Demonstranten schießen. Es gab mehrere Tote. Bassiri, der selbst nicht zugegen war, wurde festgenommen und gefoltert. Sein Verbleib ist ungeklärt. Er gilt als erster »Verschwundener« der Sahrauis. Die Harakat Tahrir hatten in kurzer Zeit zahlreiche Anhänger im ganzen Land gefunden. »Sie bildeten die Grundlage der Polisario-Front«, sagt Bilahi Sid, der Bassiri selbst kannte und sich dessen Bewegung 1970 angeschlossen hatte. »Zemla war der eigentliche Beginn des Widerstands.« Der größte Teil der Teilnehmer an der Gründungskonferenz der Polisario-Front hatte Bassiris Bewegung unterstützt. Mehrere waren nach Zouérat geflohen und hatten das Treffen vorbereitet.
Vergiftetes Geschenk
Für die jüngere Generation standen Brahim Ghali, El Ouali oder Mohammed Abdelaziz. Alle drei wurden später Generalsekretäre der Polisario-Front und Präsidenten der DARS. El Ouali kam wie ursprünglich auch Bassiri aus Marokko. Er stammte aus einer Nomadenfamilie, die wie viele andere durch eine schwere Dürre gezwungen worden war, das Leben in der Wüste aufzugeben. Als Hochbegabter hatte er in Marokko Schule und Universität geradezu überflogen. In Rabat hatte El Ouali sich im linken Studentenverband UNEM organisiert, er stand der marxistisch-leninistischen Partei Ilal Amam (Vorwärts) nahe. Er gründete selbst eine Befreiungsbewegung für die Westsahara, wobei er wusste, dass die Sahrauis von Marokko nichts zu erwarten hatten. »Ihr kämpft – wir verhandeln«, soll ein Vertreter der Istiqlal-Partei dem führenden Polisario-Mitglied Said Filali zufolge El Ouali erwidert haben, als er um Unterstützung beim Kampf um die Unabhängigkeit warb. Bei Protesten der Sahrauis in der marokkanischen Stadt Tan-Tan 1972 wurde El Ouali inhaftiert. Er kam zu dem Schluss, dass der Widerstand in der Westsahara selbst organisiert werden müsse.
In Mauretanien hatten die sahrauischen Revolutionäre viele Anhänger. Das bezeugt die französische Ethnologin Sophie Caratini, die 1974 nach Mauretanien gereist war, um die Kultur der Reguibat zu studieren, eines der größten traditionellen Stämme im Westen der Sahara. Zufällig traf sie in Nouakchott eine Gruppe von Vertretern der Polisario-Front, die zu Gesprächen mit der Regierung in die mauretanische Hauptstadt gereist waren, unter ihnen El Ouali. Er erklärte ihr das Programm der Polisario-Front, das gerade auf eine Abschaffung der Stammesstrukturen zielte. Auch Gleichstellung sollte erreicht werden. »Die Zeit der Reguibat ist abgelaufen«, sagte El Ouali ihrem Bericht zufolge. Man muss sich vorstellen, dass in Mauretanien selbst Formen der Sklaverei überdauern. In Marokko wiederum konnte sich dank französischer Patronage ein operettenhaftes absolutistisches System etablieren.
Wie in Marokko so auch in Mauretanien war Unabhängigkeit für die Menschen ein vergiftetes Geschenk. Zouérat, der Ort der Gründungskonferenz, ist ein Beispiel. Caratini schreibt in ihren Erinnerungen von der unsichtbaren Mauer, die zwischen der »Stadt der Mauren« und der »Stadt der Europäer« verlief, als sie Zouérat besuchte. In den 1950er Jahren war dort mit der Eisenerzförderung begonnen worden. Das Konsortium »Miferm« befand sich in der Hand internationaler Geldgeber, eine Bahnstrecke wurde gebaut, um das Erz abzutransportieren. In den 1960er und 1970er Jahren gab es Proteste von Arbeitern, die niedergeschlagen wurden. 1974 wurde die Minengesellschaft verstaatlicht. Die neokolonialen Verhältnisse aber bestehen bis heute fort. Algerien wiederum hatte Frankreich besiegt. El Ouali habe Algerien vorgeworfen, dass es seine Revolution nicht exportiere, sagt Said Filali.
Die Polisario-Front hat bis heute in Mauretanien die Unterstützung der fortschrittlichen Kräfte. Früh beigetreten ist ihr der mauretanische Politiker Ahmed Baba Miské, der auch die antikoloniale Zeitschrift Afrique-Asie mitbegründete. Er war es gewesen, der als Dozent in Paris-Nanterre, dem Geburtsort der Studentenrevolte, seine Schülerin Caratini auf die Reise nach Mauretanien geschickt hatte. El Ouali hatte Miské Anfang der 1970er auf einer Europareise in den Niederlanden kennengelernt, wie sein Bruder Bachir Mustapha Sayed berichtete. Caratini hat ihre Erinnerungen an jene Zeit im vergangenen Jahr neu veröffentlicht, als Zeichen, dass die Gedanken an jene Zeit sie nach Jahrzehnten akademischer Laufbahn nicht loslassen.
Bündnis der Monarchen
Ende 1974 griff ein Polisario-Kommando die Anlagen der Phosphatmine Phosbucraa bei El Aiún an. Im Frühjahr 1975 besuchte eine Delegation der UNO die Westsahara und auch angrenzende Orte wie Tindouf. »Überall werden die Abgesandten von der Bevölkerung mit Fahnen und Tranparenten empfangen: ›Spanien raus‹, ›Marokko und Mauretanien raus‹, ›Unabhängigkeit!‹« sagt Bilahi Sid. Seit damals ist die Polisario-Front von den Vereinten Nationen als Vertretung der Sahrauis anerkannt. Libyen soll zu jener Zeit eine Schriftstellerdelegation in die Westsahara geschickt haben, um festzustellen, dass es die Polisario-Front war, von der sich die Sahrauis vertreten sahen.
Immer mehr spanische Truppen liefen zur Polisario über. Die Kolonialherrschaft wankte. Als der Diktator Francisco Franco im Herbst 1975 auf dem Sterbebett lag, überschlugen sich die Ereignisse. Mauretanien und Marokko hatten seit langem auf eine Dekolonisierung der Westsahara gedrängt. 1963 war sie entsprechend von der UNO in die Liste der »nichtautonomen Territorien« aufgenommen worden, deren Einwohner ein Recht auf Selbstbestimmung haben. Doch Marokko und Mauretanien wollten die Westsahara für sich. Zwar war dem marokkanischen König Hassan II. bewusst, dass die Westsahara nie zu Marokko gehört hatte, wie im vergangenen Jahr der frühere libysche Premierminister Abdussalam Dschallud in seinen Memoiren schrieb. Allerdings war Hassan II. Anfang der 1970er Jahre in Bedrängnis geraten. Nur mit Glück hatte er mehrere Putschversuche überlebt. Der Konflikt in der Westsahara bot ihm die Gelegenheit, sich als Vorkämpfer der nationalen Sache zu inszenieren. Auch konnte er das Militär buchstäblich in die Wüste schicken.
Hassan II. hatte mächtige Ratgeber und Unterstützer. Said Filali erinnert daran, dass 1974 der französische Präsident Valérie Giscard d’Estaing nach Marokko reiste und Hassan II. in Marrakesch traf. »Frankreich hat die Monarchie immer wieder gerettet«, meint Filali. Bilahi Sid weist darauf hin, dass die USA damals vor allem ein Interesse gehabt hätten: dass sowohl Marokko als auch Spanien auf der Seite des Westens blieben. 1974 wollten Marokko und Mauretanien sich ihre »historischen Ansprüche« auf die Westsahara vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag bestätigen lassen. Das eingeforderte Gutachten wurde im Oktober 1975 veröffentlicht und wies sie zurück. Das hielt Hassan II. nicht von seinen Plänen ab. Er behauptete schlicht, dass Den Haag die marokkanische Position bestätigt habe. Dann ließ er das Militär in die Westsahara eindringen, um eine Übernahme der spanischen Grenzposten vorzubereiten. Zugleich wurde eine gigantische Propagandaaktion gestartet, um von dem Einmarsch abzulenken und die Ansprüche Marokkos auf das Land zu untermauern. Hunderttausende Marokkaner wurden an der Grenze der Westsahara versammelt, um dann die »verlorenen Südprovinzen« vor laufenden Fernsehkameras mit einem »Grünen Marsch« symbolisch heimzuholen.
Krieg und Stillstand
Franco, der sich bis zuletzt geweigert hatte, die letzte große spanische Kolonie aufzugeben, hatte nur noch wenige Tage zum Leben und keinen Einfluss mehr auf das Geschehen, und sein Stellvertreter Carrero Blanco war von der ETA ermordet worden, als Spanien, Marokko und Mauretanien im November 1975 die völkerrechtswidrigen »Abkommen von Madrid« abschlossen: Spanien zog ab und überließ seine Kolonie Mauretanien und Marokko – die ökonomischen Interessen Madrids allerdings blieben weiter gewahrt. Der Pakt schweißte vor allem zwei Seiten zusammen: die marokkanische und die spanische Monarchie. Auf dem Rücken der Sahrauis wurde die eine vor dem Untergang gerettet, die andere neu aus der Taufe gehoben.
Die Polisario-Front evakuierte die Menschen ins Innere des Landes. Genau das hatte Rabat verhindern wollen. Salma Bouchaib berichtet bei einem Gespräch in Tindouf von der Hölle, die diese Kriegsphase darstellte. Die Spanier hätten ihnen Lkws, aber zuwenig Diesel überlassen. In Flüchtlingslagern in der Wüste wurden sie von der marokkanischen Luftwaffe mit Napalm und Phosphorbomben angegriffen. Es habe keinerlei medizinische Hilfe gegeben. Schließlich gewährte Algerien die Eröffnung großer Lager bei Tindouf, die bis heute bestehen. Sie errichtet zu haben war die Leistung von sahrauischen Frauen wie Bouchaib, wie Frauen überhaupt in der Polisario-Front eine wichtige Rolle spielen. Auch aus Libyen kam Hilfe, und mehrere Generationen von Sahrauis gingen in Kuba zur Schule und besuchten dort die Universitäten. In Tindouf leben heute geschätzte 200.000 Sahrauis, ebenso viele leben in den marokkanisch besetzten Gebieten, einige zehntausend in der Diaspora. »Wir sind ein kleines Volk mit einem großen, reichen Land«, sagte Abida Mohammed Bouzeid, Mitarbeiterin im Außenministerium der DARS. Viele Sahrauis leben seit einem halben Jahrhundert in den Lagern in der Wüste.
Die Polisario-Front konzentrierte sich zunächst auf den schwächeren Gegner: Mauretanien, das im Süden vorgerückt war. 1976 wurde El Ouali nach einem Angriff auf Nouakchott getötet. Sein Nachfolger wurde Mohammed Abdelaziz. Immer wieder gelang es, den Abtransport des in Zouérat geförderten Eisenerzes zu unterbrechen. Mauretanien kollabierte. Paris griff mit Kampfjets ein, schaffte es aber nicht, die mauretanische Regierung vor dem Sturz zu retten. Präsident Mokhtar Ould Daddah musste zurücktreten, Mauretanien schied 1979 aus dem Konflikt um die Westsahara aus und schloss einen Friedensvertrag mit der Polisario-Front, worauf Marokko begann, das gesamte Gebiet zu besetzen. Es musste empfindliche Rückschläge hinnehmen. Die Polisario-Front besetzte nicht allein das »uneinnehmbare« Guelta Zemmur, sondern auch Tan-Tan und Zag im Süden Marokkos. »Hassan II. konnte bei Guelta nicht schlafen, obwohl er Schlaftabletten genommen hatte«, meint Bilahi Sid. Said Filali sagt, dass die Vorstöße auf marokkanisches Territorium auf Druck der USA aufgegeben worden seien. Fest steht: Schließlich sicherte Marokko die besetzten Gebiete durch den Bau eines 2.700 Kilometer langen Walls ab, des »Berm« oder der »Mauer der Schande«. Die Errichtung geschah auf US-amerikanischen Ratschlag hin.
Ende der 1980er Jahre konnte auch Hassan II. sich den »Abnutzungskrieg« in der Westsahara nicht mehr leisten. 1989 empfing er eine Delegation der Polisario-Front, darunter Bachir Mustapha Sayed. Schließlich wurde 1991 unter Vermittlung der UNO ein Waffenstillstand vereinbart. Sogar ein Referendum über den zukünftigen Status der Westsahara sollte endlich abgehalten werden. Nicht allein die Sahrauis glaubten, dass es tatsächlich zu der Abstimmung kommen würde. Doch sie wurden getäuscht. Von Anfang an nutzte Marokko die Tatsache aus, dass es zwei Drittel der Westsahara kontrollierte. Die von der UNO damals entsandte »Blauhelmtruppe« Minurso hatte keine Mittel, das Referendum durchzusetzen. Ihr wurde nicht einmal der Auftrag erteilt, die Menschenrechtslage zu beobachten, was ansonsten bei allen »Friedensmissionen« üblich ist. Ganze 29 Jahre lang bewegte sich im Westsahara-Konflikt nichts. Ungestraft konnte Marokko das Referendum aussitzen und verschleppen und seine Besetzung ausbauen. Dafür sorgten die Freunde des Königreichs, allen voran Frankreich, eine Vetomacht im UN-Sicherheitsrat. Heute bewacht die 1991 aufgestellte UN-Truppe Minurso einen Waffenstillstand, der nicht mehr existiert, seit Marokko ihn Ende 2020 brach und die Polisario-Front da weitermachte, wo sie 1991 aufgehört hatte: beim bewaffneten Kampf.
Schweigen gebrochen
Said Filali ist überzeugt, dass im Hintergrund des Westsahara-Konflikts der in den 1950er Jahren von Frankreich vorangetriebene Plan einer Industrialisierung der Sahara steht. »Frankreich wollte verhindern, dass die Menschen der Region ihre Bodenschätze selbst kontrollieren.« Deswegen habe es die Dekolonisierung der Westsahara verhindert. Es sei kein Zufall, dass Marokkos Istiqlal-Führer Allal Al-Fassi eben in jenem Moment die Forderung nach einem »Großmarokko« erhoben habe, als in Frankreich die Idee einer »Sahara français« popularisiert wurde. Keine Spekulation allerdings ist, dass neokoloniale Konzepte unter dem Vorzeichen der Energiekrise wiederaufleben, und einmal mehr ist Marokko ein Einfallstor.
Doch die Länder der Region »wollen nicht mehr so, wie der Westen es will«, sagt der Polisario-Politiker Khatri Addouh mit Blick auf Mali und Burkina Faso im Gespräch. Neue Allianzen deuten sich an. Die Polisario-Front ist seit langem verbündet mit anderen Staaten, allen voran mit Algerien, dann mit Kuba und Südafrika, sie unterhält Beziehungen zu anderen fortschrittlichen Ländern Südamerikas, die DARS ist Gründungsmitglied der Afrikanischen Union. Addouh bestätigt, dass man auch mit Vertretern der deutschen Bundesregierung in Kontakt stehe.
In Tindouf befindet sich eine Ausstellung zur Geschichte der Polisario-Front, das Museum des sahrauischen Widerstands. Ein Teil der ausliegenden Dokumentensammlung, ein Pressespiegel, entstand an der Universität Leipzig. In Ost und West, Nord und Süd gab und gibt es zahlreiche Westsahara-Solidaritätsgruppen, in Spanien ist Verbundenheit mit den Sahrauis weitverbreitet. Allerdings ist sie in der Gesellschaft tiefer verankert als im Regierungshandeln, wie erneut die beiden vergangenen Jahre bewiesen, in denen die Themen Westsahara und Marokko in den spanischen Medien allgegenwärtig waren und die Arbeiterpartei PSOE nicht zum ersten Mal die Sahrauis verriet.
Man sieht in dem ausgedehnten Museumsgebäude in Tindouf nicht allein ein abgeschossenes »Mirage«-Flugzeug der marokkanischen Luftwaffe, französische Panzer, österreichische Haubitzen und westdeutsche Unimogs, die an Marokko geliefert und von der Polisario-Front erbeutet wurden. Unter den eher unscheinbaren Ausstellungsstücken befindet sich auch eine Panzermine italienischer Fertigung, hergestellt 2002 und gefunden in einem von Marokko angelegten Minenfeld. Ein handgreiflicher Beleg, dass Marokko niemals gewillt war, seinen Versprechen von 1991 Folge zu leisten, und dabei aus den Reihen der EU-Länder unterstützt wurde.
Marokkos Fehler
Doch die Haltung zu Marokko ändert sich. Zum einen streiten die Polisario-Front und ihre Unterstützer auch auf rechtlicher Ebene für ein Ende der Besetzung und bringen die EU in Konflikt mit ihrer eigenen Gerichtsbarkeit. Zum anderen hat Marokko womöglich einen Fehler begangen, als es in Sachen Westsahara im Herbst 2020 in die Offensive ging. »Der Trump-Deal hat uns mehr genutzt als geschadet«, brachte es Tesh Sidi, Gründerin der Internetplattform Saharawis Today, in einem Interview auf den Punkt. Gemeint ist der Kuhhandel »Anerkennung der Westsahara-Besetzung durch die USA« gegen »Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zwischen Marokko und Israel«, den US-Präsident Donald Trump am Ende seiner Amtszeit per Twitter verkündete, womit er Öl ins Feuer des soeben wiederaufgeflammten Kriegs in der Westsahara goss. Nicht zuletzt bringe er Westsahara- und Palästina-Besetzung in einen Zusammenhang, sagt Tesh Sidi. Lange hatten palästinensische Organisationen Marokko unterstützt. Jetzt würden sie erkennen, dass das Königreich ein falsches Spiel spiele. Sogar die Gefahr einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Algerien und Marokko steht im Raum.
Auch in den Ländern, die Marokko seit jeher unterstützen, sorgten der »Pegasus-« und der »EU-Skandal« für schlechte Presse – immer stand die Westsahara im Hintergrund. Das Schweigen der Medien, das Marokko so lange zugute kam, wurde gebrochen. Kann die Polisario-Front den Krieg gewinnen? Seit einem halben Jahrhundert hält sie stand gegen einen schier übermächtigen Gegner. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein solcher sich selbst zu Fall bringt.
Jörg Tiedjen ist Redakteur im Ressort Außenpolitik der jungen Welt. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 12. November 2021 über die Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes der Frente Polisario.
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