Kraftmeierei gegen die Krise
Von Marc Bebenroth
Je tiefer die Krise, desto praller spannt die Brust. Friedrich Merz (CDU) und die Unionsfraktion haben am Donnerstag im Bundestag die Kernlosung ausgegeben: Stärke zeigen, vor allem gegenüber Moskau. Anlass war die Regierungserklärung des Kanzlers zur bevorstehenden Sitzung des Europäischen Rats. In Gaza würden seit Montag die Waffen schweigen, und dies habe gezeigt, was möglich ist, wenn »die Völkergemeinschaft zusammen handelt«, sagte Merz. Seine Schlussfolgerung für die EU: »Europa muss seine Möglichkeiten entschlossener und geschlossener nutzen und muss seine Macht zum Einsatz bringen, um die Welt zum Besseren zu gestalten.« Dazu gehöre neben wirtschaftlicher und politischer auch militärische »Stärke«. Nur diese bewahre Frieden, »Schwäche bringt den Frieden ins Wanken«, warnte Merz.
Im Europäischen Rat wolle er auf »Reformen« drängen, um die Produktivität der Unternehmen zu steigern. Ziel der EU – und damit der exportorientierten Volkswirtschaft der BRD – müsse sein, »handelnder Akteur auf globalen Märkten« zu bleiben. Denn: »Offene und freie Märkte mehren den Wohlstand aller Beteiligten«, behauptete Merz, wohingegen Protektionismus »allen Beteiligten« schade. Damit spielte er auf den anhaltenden Zollkonflikt zwischen den USA und der Volksrepublik China an, der die Profitmöglichkeiten hiesiger Kapitalisten teils erheblich tangiert. Überhaupt müsse das Kapital noch mehr entfesselt werden, um die »Wirtschaft wieder wettbewerbsfähig« zu machen. Staatliche Auflagen für Handel und Produktion bezeichnete er als »Ausdruck des Misstrauens« gegenüber Unternehmen.
Neben noch günstigeren Bedingungen für das Finanzkapital brauche die EU mehr »Verteidigungsfähigkeit«, sagte Merz und betonte seine Zielvorgabe für die Bundeswehr, perspektivisch zur größten konventionellen Streitmacht Europas anzuwachsen. Dies sei der Größe der BRD innerhalb der EU angemessen und werde auch von anderen EU-Staaten erwartet, behauptete der CDU-Vorsitzende. Für Merz kein Grund zur Sorge: »Deutschland bedroht niemanden, die Europäische Union bedroht niemanden, und auch die NATO bedroht niemanden auf der Welt«, versicherte er. Wer dann? »Ausschließlich Putin« mit »seinem brutalen Angriffskrieg«.
AfD-Chefin Alice Weidel sprach die Krisensymptome der BRD an. Die Industrieproduktion gehe zurück, reihenweise würden Massenentlassungen beschlossen. Angesichts dessen müssten »unsinnige Staatsausgaben« gestrichen werden, womit Weidel nicht nur den Sozialstaat meint, sondern auch die sogenannte Entwicklungshilfe. Sie forderte die Abschaffung der CO2-Bepreisung und des Lieferkettengesetzes sowie den Rückzug aus dem »Verbrenner-Aus«, um explizit die Bedingungen der etablierten Industrien zu verbessern. AfD-Chef Tino Chrupalla setzte in seiner Rede die »Interessen für Deutschland und seiner Bürger« mit denen der Kapitalisten gleich, für die es bessere Bedingungen zu schaffen gelte. So sei der Vorteil der deutschen Exporteure nicht, wie ein SPD-Redner behauptete, die »Einbettung« in den EU-Binnenmarkt, sondern das billige Gas aus Russland gewesen.
Die Grünen kritisierten die Regierung von Union und SPD vor allem dafür, nicht konsequent genug die Bundeswehr zu vergrößern. Angesichts solcher Auftritte entschied sich der Linke-Abgeordnete Sören Pellmann offenbar, lieber über eine EU zu reden, wie er sie sich vorstellt. Statt Gelder für Infrastruktur zu kürzen und Unsummen in die Rüstung zu stecken, könnten diese Mittel zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit verwendet werden. Dies habe sich der Europäische Rat noch 2021 zum Ziel gesetzt. Davon sei heute keine Rede mehr. Pellmann forderte einen bundesweiten Mietendeckel. Insgesamt würde eine sozial orientierte EU aus seiner Sicht viel höheres Ansehen in der Bevölkerung »und der Welt« genießen.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (19. Oktober 2025 um 20:28 Uhr)»In den vergangenen Monaten hat die Bundesregierung dazu eine Reihe von Entscheidungen getroffen, mit denen wir die Bundeswehr – so habe ich es auch von dieser Stelle schon einmal formuliert – zur stärksten konventionellen Armee in der Europäischen Union machen wollen, wie es in einem Land unserer Größe und Verantwortung eben angemessen ist und wie es unsere Verbündeten in der NATO und in der Europäischen Union zu Recht von uns erwarten.« Merz meint also, das schon einmal so formuliert zu haben und denkt dabei vielleicht an seine Rede von Mai, hier https://www.youtube.com/watch?v=bfZwYjARWmA der bettreffende Ausschnitt. Damals lautete die Formulierung allerdings anders: »Die Bundesregierung wird zukünftig alle finanziellen Mittel zur Verfügung stellen, die die Bundeswehr braucht, um konventionell zur stärksten Armee Europas zu werden. Das ist dem bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten Land Europas angemessen. Das erwarten auch unsere Freunde und Partner von uns, mehr noch, sie fordern es geradezu ein.« Damals wollte Merz also noch alle in Europa übertrumpfen, jetzt nur noch alle in der EU. Was denn nun? Sollte es tatsächlich einen Lernfortschritt in Richtung der Einsicht gegeben haben, dass nicht jeder den dicksten, längsten oder weiß ich was für einen Superlativ für sich beanspruchen kann? Ich fürchte, man täte Merz unrecht, ihm das zu unterstellen. Wir wollen doch lieber gerecht sein, und dazu gehört es, auch einem Schwächeren gegenüber von gleich zu gleich, eher fürsorglich und weniger überheblich oder gar zwangausübend aufzutreten. So klingt von meiner Seite aus die Forderung nach angemessenem Minderheitenschutz in der Ukraine, Schutz auch für Russen, unverändert berechtigt. Und die russischen Autonomiewünsche dort einfach niederezumetzeln, ist dann entsprechend unberechtigt!
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (17. Oktober 2025 um 10:21 Uhr)Der Ruf nach einer »stärkeren« Bundesrepublik und einer »wehrhafteren« Europäischen Union dient dazu, die geopolitische Rolle Europas im globalen Konkurrenzsystem neu zu definieren – und zwar im Rahmen kapitalistischer Logik. Die Debatte um »Stärke« ist also kein Aufruf zu mehr Selbstbewusstsein, sondern Ausdruck eines geopolitischen Projekts. Sie markiert den Versuch, Europas Rolle im globalen Kapitalismus zu sichern, während dessen Widersprüche sich zuspitzen. Hinter der Rhetorik von Entschlossenheit, Verantwortung und Sicherheit steht die Einsicht der herrschenden Klassen, dass Europa in der gegenwärtigen Weltordnung nur dann politisches Gewicht entfalten kann, wenn es seine ökonomische und militärische Macht ausbaut. Doch diese »Stärke« ist keine neutrale Kategorie: Sie meint die Fähigkeit, eigene Kapitalinteressen weltweit durchzusetzen – gegen andere Staaten, gegen politische Rivalen, und letztlich auch gegen soziale Interessen im Innern.
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