Das innovative Potential
Von Frank Schäfer
Die Gruppe Motörhead wurde 1975 in London von Lemmy Kilmister gegründet. Frank Schäfer geht in unserer neuen jW-Serie »50 Jahre Motörhead – die schlechteste Band der Welt« dem sehr lauten Rock-’n’-Roll-Phänomen auf den Grund.
Wenn man Lemmy später fragt, warum die Band auf einmal so ein Mordstempo an den Tag gelegt hätte, dann schiebt er gern die Verantwortung dafür ihren Dealern in die Schuhe. Ob man diese simple Gleichung, mehr Speed führt zu mehr Geschwindigkeit, glauben mag oder nicht, mit Philthy Animal Taylor und Fast Eddie Clarke mendelt sich der ureigentliche Motörhead-Sound heraus im glühend heißen Sommer 1976. Vielleicht locken sie sich ja gegenseitig aus der Reserve? Zumindest nimmt Lemmys unverwechselbarer Brachialstil, der mit den herkömmlichen Spielweisen eines Basses nicht mehr viel zu tun hat, jetzt erst seine endgültige Form an.
Er spielt keine Single Notes und also auch kaum mehr klassische Bassriffs, sondern schrammelt wie der gelernte Rhythmusgitarrist, der er nun mal ist, Power Chords durch einen voll aufgedrehten und dadurch harmonisch verzerrenden Marshall-Stack. Dessen Höhenregler steht auf zehn, während Lemmy die Bässe komplett rausdreht, um den Sound nicht zu vermuffen. Die forciert aus dem Handgelenk mit einem Plektron auf- und abgeschlagenen Akkorde lassen die dicken Saiten gegen die Bünde knallen und erzeugen so das beinahe schmerzhaft scheppernde, verzerrte, vor allem die mittleren Frequenzbereiche betonende Gebretter, das zum Markenzeichen des Motörhead-Sounds avanciert.
Gerade im Zusammenspiel mit Fast Eddie Clarkes ebenfalls im Mittenspektrum wildernden, sich gegenseitig überlappenden Overdrive-Riffs entsteht eine Intransparenz, Verdichtung, ein sonisches Getümmel, das als martialisch, gewalttätig, brutalistisch wahrgenommen werden kann – oder eben auch als stümperhaft, wenn man diese klangästhetische Neuerung mit konservativen Ohren hört. Wer sich jetzt noch die unisono gespielten, polternden, den Sound in den Bässen arrondierenden Drums hinzudenkt, bekommt eine Ahnung von der akustischen Attraktion dieser Band.
Tatsächlich ändert sich jetzt auch langsam etwas in der öffentlichen Wahrnehmung von Motörhead. Dafür verantwortlich ist ein Wandel im gesamtgesellschaftlichen Klima. Großbritannien befindet sich in einer schweren Rezession, die von November 1974 bis Dezember 1976 zur Verdopplung der Arbeitslosenzahlen führt. Die Alterskohorte der 15- bis 24jährigen ist am stärksten davon betroffen, und wie so oft in Krisenzeiten macht sich in weiten Teilen der Konsensgesellschaft eine Law-and-Order-Stimmung breit, die sich nicht zuletzt in einer aggressiven Abkehr von der 60er-Jahre-Libertinage äußert. Diese restriktiven gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sorgen für Unzufriedenheit bei englischen Teenagern – und plötzlich schwappt aus den USA eine Musik herüber, die Nihilismus als coole Grundhaltung propagiert und genauso hoffnungslos kaputt klingt, wie sie sich fühlen. Die Namen lauten Ramones, Dictators, Television, New York Dolls, Dead Boys, Heartbreakers, und sie berufen sich auf die Stooges und MC5.
Malcolm McLaren, jener abgebrochene, ein bisschen von den Situationisten und Anarchisten anpolitisierte Kunststudent, der sich in New York herumdrückt, um sich Anregungen zu holen für seine zusammen mit Vivienne Westwood geführte Modeboutique »Sex« in der Londoner King’s Road 430, hat bei seinen Besuchen im legendären CBGB bald erkannt, dass es hier nicht nur um Musik geht. Er importiert diese Subkultur nach London, und sie trifft hier auf fruchtbaren Boden. Die Vereinigten Staaten sind zwar früher dran, dafür sattelt England dem Punk schärfere politische Ambitionen drauf. Zuallererst die Sex Pistols, Malcolm McLarens Eleven, die er in kurzer Zeit und im virtuosen Spiel mit den Medien zu den finanziell erfolgreichsten Exponenten der Punkbewegung modelliert.
Lemmy trägt zwar lange Haare, aber auch Lederjacke und Patronengurt – und irgendwelche politisch-gesellschaftlichen Heilserwartungen durch die bewusstseinserweiterten Blumenkinder hat er ohnehin nie gehegt. Motörhead gehören irgendwie dazu. Mit The Damned etwa verbindet Lemmy eine engere Freundschaft, er hilft ihnen später live und im Studio aus. In seiner Biographie beschreibt er, wie ihr Schlagzeuger Rat Scabies und er sich kennenlernen. Lemmy steht mal wieder an der Bar, da spricht ihn dieser »heruntergekommene kleine Pisser« von der Seite an.
»›Hey, du bist der verdammte Lemmy, oder?‹
›Ja, der bin ich, verdammt.‹
›Ja? Glaubst du, du bist’n verdammter Rockstar oder so?‹
›Nein, aber du glaubst es. Deshalb redest du ja mit mir.‹
›Na gut. Ich geb’ dir einen aus.‹«
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