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Aus: Ausgabe vom 07.10.2025, Seite 8 / Inland
Bildungspolitik in Hessen

»Blamable Verhältnisse für ein reiches Land wie die BRD!«

Hessen: Sanierungsstau an Schulen in Milliardenhöhe. GEW fordert umfangreiche Investitionen. Ein Gespräch mit Thilo Hartmann
Interview: Gitta Düperthal
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Schüler der Linné-Schule in Frankfurt am Main verlassen das Schulgebäude (24.7.2015)

Lehrkräfte und Schüler in Hessen müssen in maroden Schulgebäuden arbeiten und lernen. Nach Schätzungen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, GEW, beläuft sich der Investitionsbedarf für Schulen auf mindestens sechs Milliarden Euro. Wie prekär ist die Lage?

Die berechneten sechs Milliarden sind das Minimum. Denn allein in Frankfurt gibt es einen Bedarf von mindestens 2,5 Millionen Euro, in Marburg von 300 Millionen. In anderen Städten und Landkreisen Hessens ist die Lage ähnlich. Schultoiletten sind schmutzig oder kaputt. Räume fehlen, etwa Fachräume für Naturwissenschaften; für manch 40köpfiges Kollegium gibt es nur 20 Arbeitsplätze. Unterricht findet in Containern statt, die im Sommer zu heiß sind und im Winter nur schlecht beheizt werden können. Fällt die Heizung aus, fällt der Unterrichtstag aus. In Frankfurt musste kürzlich die baufällige Gesamtschule IGS Süd schließen. Für die Kinder bedeutet das nun Schulwege zum anderen Ende der Stadt. Blamable Verhältnisse für ein reiches Land wie die BRD!

Wieso ist die Lage in der Main­metropole Frankfurt so mies?

Die Stadt hat Einwohnerwachstum, zugleich wurde in vergangenen Jahrzehnten kaum in Schulen investiert. Setzt man lange Zeit nichts instand, steigt der Reparaturbedarf immens.

Stichwort Klassengesellschaft: Wo in Hessen ist die Bildungsqualität eher gut und wo schlecht?

An den erhobenen Daten für die vergangenen 32 Jahre ist zu sehen, wieviel Geld in den Bau oder die Unterhaltung der Schulgebäude fließt. Insgesamt ist die Lage schlechter geworden, und es gibt große Unterschiede bei den Lernbedingungen. Im Rhein-Main-Gebiet wird eher viel investiert, im Norden Hessens weniger: Spitzenreiter ist der Hochtaunuskreis mit 1.503 Euro pro Schüler pro Jahr; die Stadt Kassel ist dabei nur mit 323 Euro vertreten. Die Stadt Offenbach wie der ländlich geprägte Lahn-Dill-Kreis investieren trotz geringer Steuereinnahmen in Schulen. Aber ja, wo weniger Steuereinnahmen sprudeln, sieht es in der Regel schlechter aus.

Neben Ausbau und Modernisierung kommunaler Infrastruktur sind neue Herausforderungen wie der Ganztagsanspruch in Grundschulen zu bewältigen. Wer steht politisch in der Verantwortung?

Für die Ausstattung der Schulen sind die Kommunen zuständig, die das Land Hessen unterfinanziert. Angesichts stark differierender finanzieller Möglichkeiten muss es die verfassungsgemäße Gleichwertigkeit der Lebensumstände gewährleisten. Die GEW kritisiert die CDU/SPD-Landesregierung, die, statt die Kommunen zu entlasten, sich das Nichtheranziehen von Vermögens- und Erbschaftsteuer leistet. Dabei sind unter den 200 reichsten Menschen der Welt laut einer Liste des Wirtschaftsmagazins Forbes drei Hessen, die könnten gut ihren Beitrag leisten.

Warum fordern Sie, die landeseigene Förderbank WI-Bank solle dazu beitragen, den Investitionsstau im Schulbereich abzubauen?

Gemeinsam mit dem DGB haben wir eine Studie in Auftrag gegeben, die aufzeigt, wie Bildungsqualität zu steigern ist, ohne die Schuldenbremse aufzuheben. Die WI-Bank sollte den Kommunen in den kommenden Jahren Kredite für Sanierung und Neubau von Schulen in Höhe von mindestens drei Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Zins und Tilgung des Kredits können durch das Land erfolgen. Das Land Thüringen setzt dies so um.

Sieht die hessische CDU/SPD-Regierung die Probleme nicht oder setzt sie politische Prioritäten falsch? Könnte sie bei den Kommunalwahlen in Hessen im Frühjahr 2026 dafür die Quittung erhalten?

Trotz aller Beteuerungen, die Qualität der Bildung zu steigern, fehlt es an Mitteln für die Gebäudesanierung, am Personal wird gespart. Ein »Denkzettel« für die miserable Schulpolitik ist eher nicht zu befürchten, aber steigende Unzufriedenheit. Eine arme oder migrantische Bevölkerung könnte zum Sündenbock gemacht werden. Und Rechtspopulisten, die für nichts eine Lösung haben, könnten profitieren.

Thilo Hartmann ist Vorsitzender der GEW Hessen

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