Hardlinerin übernimmt
Von Igor Kusar, Tokio
Die einheimischen Finanzmärkte frohlocken. Nachdem die konservative Liberaldemokratische Partei (LDP), die Japan seit ihrer Gründung 1955 fast dauerhaft regiert, am Sonnabend unerwartet die rechte Hardlinerin Takaichi Sanae zu ihrer neuen Vorsitzenden gewählt hat, ist der Aktienindex Nikkei am Montag auf ein Rekordhoch geklettert. Die Neuwahl war nötig geworden, da Vorgänger Ishiba Shigeru Anfang September seinen Rücktritt bekanntgegeben hatte. In einem defensiv geführten Wahlkampf setzte sich die 64jährige gegen den telegenen Favoriten Koizumi Shinjiro in der zweiten Abstimmungsrunde durch. Die erste Frau an der Spitze der LDP wird vermutlich Mitte Oktober vom Parlament zur neuen Premierministerin gewählt. Die Liberaldemokraten bilden zwar zur Zeit eine Minderheitsregierung. Doch die Opposition ist zu zerstritten, um sich auf einen gemeinsamen Gegenkandidaten zu einigen.
Für die LDP war es eine Schicksalswahl. Die Partei steht nach Verlusten bei den letzten beiden Urnengängen am Abgrund und ist stark zerstritten. Sie hatte als Allerweltspartei in ihrer Geschichte bis heute stets Mitglieder und Politiker verschiedener Ideologien. Was sie zusammenhielt, war der Erfolg. Jetzt, wo er ausbleibt, ist die Gefahr einer Spaltung zwischen dem rechten und dem moderat konservativen Flügel groß. Der Wahlkampf zwischen insgesamt fünf Kandidaten war denn auch gekennzeichnet von Parolen, die den Zusammenhalt beschworen. Dabei versuchten sich alle fünf als politisch gemäßigt zu präsentieren. Extremere Positionen und Statements, die von der bisherigen Politik des Zentristen Ishiba abweichen, wurden vermieden. Selbst Takaichi hielt sich bei Fragen zu ihrer rechten Agenda bedeckt, etwa zu ihren regelmäßigen Besuchen des Yasukuni-Schreins für die Kriegstoten – Symbol für den japanischen Geschichtsrevisionismus.
Von Erneuerung war im Wahlkampf denn auch wenig zu spüren. Die Skandale um Schmiergeldkassen der vergangenen Jahre, die den Filz in der japanischen Politik verdeutlichen, waren ebensowenig ein Thema wie eine schrittweise Abnabelung von den USA. Diese wäre angesichts von Donald Trumps erratischer Außen- und Sicherheitspolitik dringend geboten. Auch die sogenannten verlorenen 30 Jahre – Stichwort Wirtschaftsstagnation –, deren Folgen die Japaner aufgrund der jetzigen Inflation und der sinkenden Reallöhne um so mehr spüren und für die sie die Schuld zunehmend der LDP geben, wurden kaum angesprochen.
Takaichi war die einzige, die sich bemühte, neue Wege aus den Krisen aufzuzeigen. Sie konzentrierte sich vor allem auf die Wirtschaftspolitik. Sie will die Abenomics (die Politik ihres ehemaligen Mentors Abe Shinzo) wiederaufnehmen und zu einer Erhöhung der Staatsausgaben oder der Senkung von Steuern zurückkehren – gegen den Widerstand des mächtigen Finanzministeriums und von Teilen der LDP. Ihre Sachkundigkeit und Erfahrung waren denn auch mit ausschlaggebend für ihren Triumph über den 44jährigen Koizumi, der in Sachen Expertise einen ungenügenden Eindruck macht.
Die ersten Reaktionen von liberalen Kommentatoren auf Takaichis Sieg waren widersprüchlich. Einige glauben, sie werde sich vor allem auf die wirtschaftliche Erholung konzentrieren und sich mit einer rechten Agenda etwa in der Gesellschafts- und Sicherheitspolitik zurückhalten. Anders als beim Falken Abe, der von fast allen LDP-Parlamentariern unterstützt wurde, sei ihre Machtbasis klein, so die Begründung.
Andere sehen schon in der Tatsache, dass Takaichi gewählt wurde, einen Beweis für einen Rechtsruck in der LDP. Sie befürchten – sollte sie sich im Sattel halten – vor allem eine härtere Gangart gegenüber Andersdenkenden, Minderheiten und Medien und verweisen auf Aussagen, die Takaichi in der Vergangenheit gemacht hat. Ihr Sieg sei Teil einer neuen Entwicklung hin zu einem rauheren Klima in Gesellschaft und Politik – mit aufstrebenden Rechtsparteien, die eine steigende Anzahl von Ausländern und eine »Touristenschwemme« im Land beklagen. Und immer mehr Japaner stimmen in diesen Chor ein.
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