Zwei Jahre Genozid
Von Ina Sembdner
Israels Premier Benjamin Netanjahu hat bei seiner Rede vor der UN-Generalversammlung am 26. September den Kurs vorgegeben: »Ein Großteil der Welt erinnert sich nicht mehr an den 7. Oktober« 2023, behauptete der ultrarechte Politiker und empfahl, den QR-Button an seinem Jackett aufzurufen, um das zu ändern. Während diese Einschätzung ohnehin kaum zutreffen dürfte, ist es wohl der nur wenige Stunden nach dem Überfall der Hamas, anderer bewaffneter palästinensischer Gruppen und von Zivilisten gestartete Vernichtungsfeldzug Israels gegen die palästinensische Enklave, der den Anlass dafür in den Hintergrund rücken ließ.
Nicht überraschend wiederholte Netanjahu, der sein politisches Überleben angesichts umfassender Korruptionsanschuldigungen im Krieg zu sichern sucht, Lügen über das, was vor zwei Jahren geschehen ist: »Sie haben Babys lebendig verbrannt. Sie haben Babys vor den Augen ihrer Eltern lebendig verbrannt. Was für Monster.« Ein Vorwurf, der unter anderem von dem investigativen Team I-Unit Al-Dschasiras nach Sichtung und Auswertung aller verfügbaren Daten widerlegt wurde. Statt Babys hätten sich zwölf Personen in dem betreffenden Haus im Kibbuz Beeri befunden, »die mit ziemlicher Sicherheit von israelischen Streitkräften getötet wurden, als diese das Gebäude stürmten«. Ein Hinweis darauf, dass noch immer unklar ist, wie viele Menschen unter den rund 800 zivilen Opfern vom eigenen Militär getötet wurden, unbenommen der Tatsache »weit verbreiteter Menschenrechtsverletzungen« durch die Angreifer, wie I-Unit ebenfalls festhielt.
Die Verantwortlichkeiten für das mutmaßliche Versagen der Einsatzkräfte, den Überfall aus dem weltweit am besten gesicherten und überwachten Gebiet zu verhindern, werden seither hin und her geschoben. Ranghohe Persönlichkeiten wie der frühere Generalstabschef Herzi Halewi traten zurück wegen des »Versagens« am 7. Oktober. Am Montag berichtete die Tageszeitung Haaretz, dass die Warnungen des inländischen Geheimdienstes Schin Bet über verdächtige Aktivitäten im Gazastreifen die Polizei erst vier Stunden später erreicht hätten – eine halbe Stunde, nachdem die Angriffswelle begonnen hatte. Eine dem Blatt vorliegende interne Untersuchung der Polizei kam zu dem Schluss, dass »eine Systemaktualisierung, die in der Nacht vor dem Angriff auf das verschlüsselte System zur Übertragung der Informationen des Schin Bet durchgeführt wurde, zu einer Verzögerung beim Empfang der Warnung geführt habe«.
Aber wie es der ebenfalls zurückgetretene Chef des Militärnachrichtendienstes, Aharon Haliwa, in mehreren vom israelischen Channel 12 veröffentlichten geleakten Audioaufnahmen erklärte: Der Überfall sei nicht aufgrund von Versäumnissen der Geheimdienste oder einer schlechten Reaktionszeit zustande gekommen, sondern er sei das Ergebnis von »etwas viel Tieferem«, »das sich über viele Jahre erstreckte und eine viel tiefgreifendere Korrektur erfordert«. Haliwa sprach in den von der Times of Israel am 16. August zitierten Auszügen auch vom Nutzen der Hamas für Israel und fragte, warum Netanjahu wolle, dass diese die Nachfolge der Palästinensischen Nationalbehörde (PA) antrete: »Weil die PA internationalen Status hat« und die Hamas eine Organisation sei, »gegen die man frei kämpfen kann«. Sie habe »keine internationale Rechtfertigung, sie hat keine Legitimität, man kann sie mit dem Schwert bekämpfen«. Ohnehin brauche die palästinensische Bevölkerung »von Zeit zu Zeit« eine Nakba – die Massenvertreibung und -tötung im Zuge der israelischen Staatsgründung 1948 –, »um dann den Preis zu spüren. In dieser unruhigen Gegend gibt es keine Wahl.«
Der jüngst auch von der UNO als Genozid eingeordnete Feldzug entspricht also dem Kalkül israelischer Strategen. Neben der offiziell registrierten Zahl von mindestens 67.160 Toten und 169.679 Verletzten – die Mehrheit davon Frauen, Minderjährige und Kinder – werden die 365 Quadratkilometer der Küstenenklave systematisch dem Erdboden gleichgemacht. Ein am Montag veröffentlichter Bericht des Palästinensischen Zentrums für Statistik zeigt, dass bis zum 8. Juli mehr als 100.000 Gebäude vollständig zerstört wurden, doppelt so viele wie im ersten Kriegsjahr. Die rund zwei Millionen Einwohner werden derweil auf immer engerem Raum konzentriert – 82 Prozent des Gazastreifens sind für sie Todeszonen.
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