Auffällige Schatten
Von Holger Römers
»Wir wollten Karla eine Stimme geben, ohne das Unsagbare aussprechen zu müssen«, so beschreibt die deutsch-griechische Regisseurin Christina Tournatzés in einem Interview den Ansatz, den ihr Spielfilmdebüt »Karla« bezüglich der kindlichen Titelfigur verfolgt. Die Protagonistin ist einem realen Vorbild nachempfunden, das gibt schon die am Anfang stehende Texttafel »nach einer wahren Geschichte« zu Protokoll, bevor der Abspann dann knappe Sätze zum weiteren Lebensweg mit der Einblendung zweier Schwarzweißfotos aus den 1970ern beglaubigt. Auf »die echte Karla«, die offenbar zur Familie der Drehbuchautorin Yvonne Görlach gehört, beruft sich Tournatzés denn auch, um die gewählte Erzählweise zu begründen: »Sie hat oft gesagt, sie kann und will nicht darüber sprechen, was ihr genau passiert ist, aber sie will darüber reden, wie sie sich damals gefühlt hat.« Der Film, der um wiederholten Kindesmissbrauch kreist, bildet die Taten also nie ab. Regelmäßig eingeschobene, kurze Rückblenden lassen allenfalls die Augenblicke davor oder danach erahnen, wobei Unschärfen und perspektivische Verzerrungen die Subjektivität der Erinnerungen sowie ihre traumatische Wirkung betonen.
Die Handlung beginnt, als die zwölfjährige Protagonistin (Elise Krieps) vor ihren Eltern Reißaus genommen hat und eines Abends im Jahr 1962 auf einem Münchner Polizeirevier auftaucht. Sie verkündet scheu, ihren Vater anzeigen zu wollen, und verlangt sogleich, einen Richter zu sprechen. Gegenüber Richter Lamy (Rainer Bock) führt Karla dann den einschlägigen Paragraphen 176 StGB ins Feld, von dem sie nach eigenen Angaben in einer Bibliothek erfahren hat. Der im auswendig gelernten Anfangssatz der Strafvorschrift enthaltene Begriff »unzüchtige Handlungen« bleibt zugleich der konkreteste Hinweis auf die Taten, die der über weite Strecken unsichtbare Vater wohl unzählige Male begangen hat.
Wenn Lamy bei einem späteren Gespräch ein genaueres Bild des Tathergangs zu gewinnen versucht, ruft die Frage nach Einzelheiten bei dem Kind unwillkürlich Brechreiz hervor. Folgerichtig werden die informellen Befragungen, die mutmaßlich über Wochen im Richterzimmer stattfinden, von Isabel Meier auffallend sprunghaft und unzusammenhängend montiert. So tritt der Widerspruch zutage, der zwischen der allzu verständlichen Sprachlosigkeit eines traumatisierten Opfers und der juristischen Notwendigkeit, eine Anklage auf gerichtsverwertbaren Daten aufzubauen, unweigerlich besteht. Umso irritierender, dass die 1982 geborene Filmemacherin diesen Widerspruch offenbar schlicht ignorieren will, wenn sie den Film in der letzten halben Stunde in einem Gerichtsdrama münden lässt.
Das Publikum mag Karla spontan glauben, ohne weitere Einzelheiten hören oder sehen zu müssen. Wir sind es im Kino ohnehin gewohnt, den Worten und Taten von Filmfiguren unbewusst mit einem Vertrauensvorschuss zu begegnen, sofern die Dramaturgie uns keinen Anlass zu Zweifeln gibt. Zudem lässt das Spiel der Spielfilmdebütantin Elise Krieps (die übrigens Tochter der berühmten Vicky ist) die Protagonistin generell überzeugend wirken. Deren Aussagen werden mittelbar auch von dekorativen Expressionismen untermauert, zu denen Kameramann Florian Emmerich sich gelegentlich hinreißen lässt: Während sie provisorisch in einem von Nonnen betriebenen Kinderheim untergebracht ist, wirft ein Fensterkreuz auffällige Schlagschatten übers Bett, die gewiss nicht zufällig an Gefängnisgitter denken lassen. Dass das Kind in dieser tristen Umgebung dennoch heiter auftritt, lässt im Umkehrschluss den Horror erahnen, den es im Elternhaus erduldet hat.
Das Drehbuch dichtet Lamys Sekretärin (Imogen Kogge) indes eine KZ-Haft an, um ihre Fürsprache für Karla beim Chef zu begründen, und veranlasst diesen, einen eigenen familiären Schicksalsschlag zu erwähnen, um sein fürsorgliches Bemühen zusätzlich zu motivieren. Solche persönlichen Beweggründe setzen freilich die Strafprozessordnung ebenso wenig außer Kraft wie die Genrekonventionen eines Gerichtsdramas. Wenn nach gut einer Stunde endlich ein Staatsanwalt auftritt, dem Lamy die gegen alle Regeln selbstverfasste Anklageschrift unterschiebt, entgegnet der Mann nach kurzem Blättern durch die wenigen Papiere: »Aber du hast ja gar nichts. Null!« Wohlmeinende plumpe Rechtsbeugung herbeizuwünschen, ist in jedem Fall die falsche Antwort auf so ein Dilemma.
»Karla«, Regie: Christina Tournatzés, BRD 2025, 104. Min., bereits angelaufen
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