Spektakel der Erlösung
Von Kai Köhler
Gustav Mahlers achte Sinfonie ist heute fern und nah zugleich. Weshalb sie fern ist, klärt ein Vergleich mit der in den letzten Jahren häufig gespielten instrumentalen Sechsten, die mit ihren brutalen Märschen und ihrem katastrophischen Ende in eine Vorkriegszeit passt. Die Achte hingegen, in der fast durchgehend gesungen wird, bringt in ihrem kompakten ersten Teil eine Vertonung des frühmittelalterlichen Pfingsthymnus »Veni creator spiritus«, komm heiliger Geist. Und derart erleuchtet hört man im zweiten Teil die Schlussszene aus Goethes »Faust 2«: Fausts Seele, vor der Hölle gerettet, steigt von Station zu Station empor: »Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.«
Freilich braucht man weder an den heiligen Geist noch ans Ewigweibliche zu glauben, um den weltlichen Gehalt des Werks zu verstehen. Vor einigen Jahren hat Stefan Siegert in dieser Zeitung in einer Konzertkritik den Menschenhimmel Goethes wie Mahlers mit dem Kommunismus gleichgesetzt. Das war vielleicht etwas zu viel der Aktualisierung. Richtig daran aber ist, dass Pfingstgesang, »Faust« und Sinfonie Gestaltungen positiver menschlicher Möglichkeiten sind. Erscheint dies heute nah? Man kann zweifeln.
Sicher aber ist, dass Mahler diese Sinfonie als sein Hauptwerk ansah und ungeheure Mittel aufbot, das Gemeinte zu übermitteln. Der Veranstalter der Uraufführung 1910 verpasste der Komposition denn auch, gegen Mahlers Willen, den Werbetitel »Sinfonie der Tausend«, der ihr zuweilen bis heute anhaftet. Darin liegt eine Gefahr, gerade im gegenwärtigen Musikbetrieb, der großangelegte Werke bevorzugt, um Aufmerksamkeit herzustellen: Es droht das Spektakel. Es droht um so mehr, als eine Aufführung allein schon logistisch schwierig ist. Auch wenn nicht, wie bei der Uraufführung, mehr als tausend Sänger und Instrumentalisten beteiligt sind, gilt es doch, neben einem riesigen Orchester und mehreren Chören acht Solisten und eine Blechbläsergruppe zu koordinieren. Manche Aufführung gelangt nicht über diesen Punkt hinaus, manche nicht einmal zu ihm hin.
Am 25. September war, um die Massen unterzubringen, ein ungewöhnlicher Raum gewählt: der Hangar 4 des früheren Flughafens Berlin-Tempelhof. In der Mitte der Halle saßen die sehr zahlreichen Instrumentalisten – Mitglieder des Orchesters der Komischen Oper Berlin und des Deutschen Symphonie-Orchesters. Auf der Mitteltribüne waren die Chöre plaziert: die Chorsolisten und der Kinderchor der Komischen Oper, der Rundfunkchor und das Vokalconsort Berlin. Ihnen gegenüber, etwas hinter dem Dirigenten James Gaffigan, befanden sich die Solisten. Die Zuhörer saßen rechts und links davon auf den Seitentribünen.
Was den ersten Teil angeht, in dem Mahler Chor und Orchester sehr massiv einsetzt, war das klangliche Ergebnis zumindest auf meinem Platz über weite Strecken so desaströs, dass eine ernsthafte Kritik kaum möglich ist. Chöre, Orchester, Solisten und in den Schlusstakten die gesondert aufgestellten Blechbläser kamen von unterschiedlichen Orten und bildeten kein Ganzes. Die Chöre gellten wie eine übersteuerte Stereoanlage ins linke Ohr, einzelne Stimmen ließen sich nur schwer auseinanderhalten. Zwischen halblaut und überlaut müsste an den Zielpunkten von Steigerungen eine ideale Entfaltung liegen, wo eine Fülle von Musik ganz den Raum durchmisst. Vermutlich sind dafür Holzwände günstiger als die Stahlkonstruktion eines Hangars. Man hat’s versucht, warum auch nicht. Sehr groß besetzte chorsinfonische Werke sollten aber künftig wieder in dafür geplanten Konzertsälen aufgeführt werden, sogar wenn man mangels Platz auf der Bühne die Sängerzahl ein wenig reduzieren muss.
Im deutlich längeren zweiten Teil, der »Faust«-Vertonung, verwendet Mahler nur selten den ganzen Apparat gleichzeitig. Entsprechend ergab sich hier ein viel besserer Eindruck. Nun erst wurde eine große Stärke dieser Aufführung hörbar, nämlich die ohne Ausnahme gut und teils sogar herausragend besetzten Soli. Hervorzuheben sind der Bassist Andreas Bauer Kanabas und die Altistin Rachael Wilson, besonders aber Andrew Staples, der die exponierte Faust-Partie ganz ohne Druck, dennoch durchdringend und zugleich sinnvoll phrasierend sang. Man hört das sogar bei Einspielungen, wo die Tontechnik viel Zeit zum Abmischen hat, selten so überzeugend.
Es war ein Experiment, Angehörige von zwei Orchestern in jeder Instrumentengruppe zu vermischen, statt ein Orchester durch Aushilfskräfte zu verstärken. Dieses Experiment ist gelungen. Der Klang war, soweit sich das von der Seite beurteilen lässt, homogen. Freilich treten bei dem Raum, den ein solch großes Ensemble benötigt, bei einer solchen Aufstellung die Instrumentengruppen an der jeweiligen Flanke unweigerlich in den Vordergrund. Gaffigan leitete straff, arbeitete das Gestische und zuweilen das auch in dieser Sinfonie Schneidende heraus, nahm indessen langsame Passagen sehr langsam. Strukturelle Verknüpfungen traten in den Hintergrund, schon deshalb, weil der erste Teil schwer nachvollziehbar war.
Ein Fazit? Der Hangar 4 taugt nicht für Klangballungen, allenfalls für mittelgroße Besetzungen. Mahlers Achte vermag auch unter ungünstigen Bedingungen zu beindrucken. Dennoch liegt die Problematik in der Konzeption: Mahler trieb einen solchen Aufwand, den ihm wichtigen Inhalt zu vermitteln, dass der Aufwand den Inhalt zu erdrücken droht. Dazu einen besonderen Aufführungsort zu wählen, macht das Werk noch mehr zu der »Sinfonie der Tausend«, die es nicht sein sollte.
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