Regenwürmer
Von Helmut Höge
Seit langem wird – fast weltweit – der »Humusschwund« beklagt. Schuld ist der vermehrte Einsatz chemischer Dünger, die biologische, etwa Exkremente, ersetzen. Um die Humusschicht zu erneuern, braucht es Mikroorganismen und Regenwürmer. Erstere galten lange Zeit als Krankheitserreger, letztere als Pflanzenschädlinge.
Ihre Umwertung verdankten sie unter anderem Raoul Heinrich Francé und seinen »Untersuchungen zur Oekologie der bodenbewohnenden Mikroorganismen« (1913) sowie zum »Leben im Ackerboden« (1922). Als Francé 1943 in Budapest starb, führte seine Frau, die Biologin Annie Francé-Harrar, seine Forschungen weiter. Neben dem »Handbuch des Bodenlebens«, das erst 2011, lang nach ihrem Tod erschienen ist, veröffentlichte sie 1950 »Die letzte Chance – für eine Zukunft ohne Not«.
Ihr Fazit: Wenn wir nicht schleunigst den Wald retten und die Humusschicht auf unseren Böden verbessern, dann ist es um das Leben auf der Erde geschehen. »Humus war und ist nicht nur der Urernährer der ganzen Welt, sondern auch der alles Irdische umfassende Lebensraum, auf den alles Lebende angewiesen ist«, so Francé-Harrar. Der Humus und die zuständigen Mikroorganismen, von denen die Pflanzen und somit wir abhängen, müssten studiert und unterstützt, statt wie bis heute permanent behindert werden: »Seit Jahrhunderten haben wir unsere Böden kaputtgemacht.«
Unter dem Titel »Drecksarbeit – Der Mikrokosmos unter unseren Füßen« ist im März ein üppiger Text-Bild-Band erschienen, der die Arbeiten der Francés anhand einzelner Arten vorführt. Neben Bildern von Springschwänzen, Hornmilben, Bärtierchen, Asseln usw. heißt es da: »Weltweit leben 1.000.000.000mal mehr Bakterien im Boden, als es Sterne im Weltall gibt.« Mit ihnen »summiert sich das Gewicht der Lebewesen, die einen Hektar durchwurzelbaren Bodens bewohnen, auf 15 Tonnen.«
Der französische Philosoph Gaspard Koenig widmete dem Thema seinen Roman »Humus«. Er erzählt die Geschichte zweier Regenwurmexperten, die sich je ein Startup ausgedacht haben: Der eine will einen vergifteten Acker, den er geerbt hat, mit Regenwürmern wieder fruchtbar machen, der andere massenweise Regenwürmer in industriellen »Wurmkompostern« züchten und verkaufen. Beide scheitern: Ersterer lebt bescheiden vom Gemüseanbau in seinem Garten, letzterer betrieb schlussendlich betrügerisches Greenwashing. Beide geraten in bewaffnete Kämpfe der Organisation Extinction Rebellion, die ebenfalls scheitern.
Die Tierschützerin und Schimpansenforscherin Jane Goodall erzählte dem Neurologen Oliver Sacks, dass sie als kleines Kind die Regenwürmer mit ins Bett nahm. In Sacks posthum veröffentlichten Briefen (Rowohlt 2025) heißt es: »Ich werde (wieder) Töpfe voller Erde, in der es von Regenwürmern wimmelt, in meine Küche bringen (ich tat es 2009, als ich über sie schreiben wollte). Darwin stellte fest, dass ihr ›Lieblingsgemüse‹ Zwiebeln, Radieschen und Kohl ist. Das ist auch das meine, was uns einmal mehr die Kontinuität des Lebens vor Augen führt!«
Regenwürmer ernähren sich von verrottendem organischen Material und scheiden Humus aus. Und weil das, was geerntet wurde, zurück in den Boden muss, richtet jeder Kleingärtner für sie einen Komposthaufen ein. Mehr als 600 Tiere pro Quadratmeter können in gesunden Böden vorkommen und pro Hektar jährlich bis zu 80 Tonnen »unverzichtbare Ton-Humus-Komplexe« bilden, weiß die Zeitschrift agrarheute. Seit 2005 seien Regenwürmer »demnach verstärkt in den Blickpunkt gerückt«.
So auch in den des Wissenschaftshistorikers Bruno Latour. In seinem »Kompositionistischen Manifest« (2013) schreibt er, allen müsste inzwischen klar sein, dass die Experimente der »Naturalisten« längst den Laboratorien entwachsen sind und somit alle betreffen – »jeden von uns, wir sind ›Mitforscher‹, ob wir wollen oder nicht«. Latours »politische Ökologie« will das Gegenteil einer »Öko-Politik« sein. Dazu gehört für ihn die Einsicht: »Kritik, Natur, Fortschritt, das sind drei der Zutaten des Modernismus, die kompostiert werden müssen (…) bevor sie wieder neu komponiert werden.«
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