Gegründet 1947 Dienstag, 16. September 2025, Nr. 215
Die junge Welt wird von 3036 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 16.09.2025, Seite 10 / Feuilleton
Theater

Eine offene Wunde

Ilka Vierkant spielt ihr Stück »ZweitZeuge« in der Gedenkstätte Buchenwald über einen Holocaustüberlebenden und eine Nazienkelin
Von Jens Grandt
10.jpg
»Das Leid ist noch hier, in diesem Raum.« – Ilka Vierkant auf der Bühne

Wie kann ein Holocaustüberlebender der Enkelin eines Nazitäters gegenübertreten? Und die Enkelin ihr Herz öffnen für den Schmerz eigener, in der Familie verschwiegener Vergangenheit? Sich anrühren lassen und verantwortlich fühlen – in der egozentrischen, widersprüchlichen Gegenwart?

Die deutsch-französische Schauspielerin, Musikerin und Regisseurin Ilka Vierkant führt vom 16. bis zum 18. September in der ehemaligen Häftlingskantine der Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau Dora sechsmal ihr Stück »ZweitZeuge« auf. Es ist dokumentarisches Figurentheater und so intim vermittelt, dass es die Zuschauer unwillkürlich in die Handlung zieht und für die Gefühle der dargestellten Personen öffnet.

Auslösendes Moment, dieses Stück zu schreiben, war eine Begegnung der Autorin mit dem nach Auschwitz und Buchenwald deportierten Jean Vaislic, der als 19jähriger Jude noch Janek hieß. Ilka Vierkant drehte 2019 in Toulouse einen Dokfilm über ihn und dessen Frau Marie, die ins Frauen-KZ Ravensbrück deportiert worden war. Danach las Jean in einer Buchhandlung aus seinen Erinnerungen »Du Fond de ma mémoire …« »Ich bin rausgegangen und hatte Tränen in den Augen«, sagt Vierkant. »Dieser Mann war für mich eine offene Wunde.«

Zugleich kreisten ihre Gedanken um eine Vorstellung: Jean Vaislic musste in Auschwitz Gleise verlegen. Vierkants Großvater war als Reichsbahndirektor im Distrikt Krakau stationiert. Sie hätten sich gegenüberstehen können. »Diese Vorstellung war für mich unerträglich.« Erst drei Jahre später traute sich die Künstlerin, mit Vaislic über die Nazivergangenheit ihrer Vorfahren zu sprechen. Da wurde ihr klar: Sie muss diese Geschichte erzählen und weitergeben. Aber wie?

Es entstanden mehrere Fassungen des Stücks. Zuerst eine musikalische: Sie spielt Akkordeon, erzählt die Tragödie ihrer Familie und was mit Vaislic geschehen ist. »Ich bin jedes Mal ins Heulen gekommen. Ich brauchte eine geeignete dramaturgische Umsetzung.« Der Opa gehört auf die Bühne, ebenso ein Enkel von ihr, dem sie vermittelt, was an Unfassbarem geschehen ist – sie arbeitete nun mit selbstgefertigten Marionetten. »Opa!« hatte 2021 im großen Théâtre du Pavé in Toulouse Premiere und wurde Dutzende Male aufgeführt, es fand ein großes Medienecho, etwa in der linken Zeitung L’Humanité. Für die »Topographie des Terrors« in Berlin entstand eine neue, deutsche Fassung mit dem Titel »Opa und der zweite Weltkrieg« (2024). Die Erstaufführung von »ZweitZeuge« fand diesen Mai in Duisburg statt.

Vierkant ist »Zweitzeuge«. Sie spielt sich als reale biographische Person und, eine rote Jacke überziehend, die Protagonistin Monika, die mit dem Puppengroßvater Werner spricht und auf den Enkel Ben einredet, der von seinem Handy nicht aufschauen will. »Ich möchte, dass wir darüber reden können, was passiert ist. Das Leid ist noch hier, in diesem Raum.« Auszüge aus Interviews mit Jean Vaislic werden eingeblendet. »ZweitZeuge« handelt von der Berührbarkeit, von der Empathie gegenüber dem und den anderen.

Das künstlerische Schaffen der in München geborenen Vierkant ist fast unüberschaubar. Sie spielte auf französischen Bühnen, war Aufnahmeleiterin und Koautorin von Filmen. Mit dem Stück »Ristorante Immortale« der Berliner Compagnie »Familie Flöz« ging sie über 16 Jahre auf Welttournee. Sie schrieb mit an »Ich liebe Dich, moi non plus« des Regisseurs Marc Fauroux über eine Mutter im Ersten Weltkrieg, in dem sie auch spielte. Nächstens sind Aufführungen an französischen und deutschen Schulen gebucht sowie eine Vorstellung in Stuttgart. Zur Zeit arbeitet Ilka Vierkant an einer spanischen und einer englischen Fassung von »ZweitZeuge«, die sie in New York und Buenos Aires zeigen möchte.

Vorstellungen: 16.9.2025, 10.15 Uhr und 14.15 Uhr; 17.9.2025, 10.15 Uhr und 14.15 Uhr; 18.9.2025, 10.15 Uhr und 14.15 Uhr

75 für 75

Mit der Tageszeitung junge Welt täglich bestens mit marxistisch orientierter Lektüre ausgerüstet – für die Liegewiese im Stadtbad oder den Besuch im Eiscafé um die Ecke. Unser sommerliches Angebot für Sie: 75 Ausgaben der Tageszeitung junge Welt für 75 Euro.

 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

  • Die Kinderbuchautorin Ruth Rewald (1906–1942), Aufnahme von 1934
    14.12.2024

    Eine Frau verschwindet

    Vor 90 Jahren erschien das Kinderbuch »Janko, der Junge aus Mexiko« der in Auschwitz ermordeten Autorin Ruth Rewald
  • Nilpferdmonologe: Nicht immer wurde die Geduld des Berlinale-Pub...
    26.02.2024

    Cannes ist weit weg

    Berlinale.. Nicht auf der Höhe: Die verdienten Gewinnerfilme und die Tristesse der Dutzendware
  • »… nicht, um ihr Gewissen zu beruhigen« – Beate und Serge Klarsf...
    03.01.2023

    Kämpfen, um zu gewinnen

    Eine Ausstellung in der Berliner Topographie des Terrors zeigt Beate und Serge Klarsfelds Einsatz gegen Nazitäter und das Vergessen

Mehr aus: Feuilleton

                                                                 Aktionsabo: 75 Ausgaben für 75 Euro