Lauter kleine Dinge
Von Alexander Kasbohm
Die Talking Heads, David Byrnes Band der 70er und 80er, hatten wahrscheinlich mehr Einfluss auf die Indieszene der letzten 20 Jahre, als ihr guttat. Die Gruppe aus New York City war oft brillant, abgekupfert wurde meist nur ihre bisweilen enervierende Hektik. Was diese Band wesentlich größer macht als all ihre Epigonen, ist genau das, was sie außer nervöser Rastlosigkeit besaß: die Fähigkeit, Dinge gekonnt auf den Kopf zu stellen, mit dem Unerwarteten um die Ecke zu kommen, Einflüsse anderer musikalischer Traditionen nicht bloß zu nutzen (appropriieren), sondern sie zu verarbeiten, mit ihnen Neues zu kreieren.
David Byrne ist nach dem Ende der Talking Heads 1991 hervorragend gealtert. Musikalisch zeigt er selten Ermüdungserscheinungen. Viele Kollegen verlieren ihren kreativen Funken im Alter zwischen 30 und 35 mindestens vorübergehend. Sie können noch routiniert Songs schreiben, die vage ihrem Stil entsprechen, aber sehr generisch wirken und denen eben genau das fehlt, was ihre Kunst einmal groß machte. David Bowie kämpfte bald 30 Jahre – mal mehr, mal weniger verzweifelt – gegen diese Malaise an, bis seine Muse mit den letzten beiden Alben erneut an Einfluss gewann. Andere Künstler arrangieren sich mit dem Schatten, der sie geworden sind.
Byrne hatte solche Probleme nie. Oder er hat einfach nie etwas aufgenommen, wenn er sich nicht inspiriert fühlte. Nicht alle Alben sind großartig, aber fast immer spürt man die Geistesfrische, die auch jüngeren Kollegen (Byrne ist jetzt 72, Haare schlohweiß) nicht selten fehlt. Was nicht heißen soll, dass seine Alben grundlegende Überraschungen böten. Sein Areal hat er relativ klar abgesteckt. Doch innerhalb dieser musikalischen Koordinaten findet Byrne immer wieder kleine Dinge, die sein Interesse wecken, ihn inspirieren. Wie ein Kind, dass sich in einen Haufen Sandkörner vertieft und dort neue Welten entdeckt. Da Byrne nie gelangweilt zu sein scheint, langweilt auch er nicht.
Und er stellt sich Fragen, die man sich tatsächlich regelmäßiger stellen sollte: Mag ich, was ich tue? Warum schreibe ich Songs, weshalb mache ich diesen Job? Ist irgendwas daran wichtig? Neue äußere Reize sind immer eine gute Inspirationsstimulanz. Auf »Who Is the Sky?« arbeitet Byrne unter anderem mit dem New Yorker Kammerensemble Ghost Train Orchestra und Tom Skinner, dem Drummer von Sons of Kemet und The Smile. Produziert hat Kid Harpoon (Harry Styles, Miley Cyrus), nein, er hat keinen Schaden angerichtet. Im Gegenteil, der Sound ist kompakt, lässt gleichwohl vielen feinen Details ihren Raum. Eventuell wäre etwas mehr »Luft«, mehr Raum zum Ausufern schön gewesen, aber das übergeordnete Ziel hieß eben eindeutig, die Popaspekte der Songs zu betonen.
Der oft etwas kühl wirkende, abstrakt intellektualisierende Byrne richtet einen erstaunlich liebevollen Blick auf alltägliche Erlebnisse. »Who Is the Sky?« ist purer, freudvoller Pop. Wo der geschätzte Kollege Jürgen Ziemer vom Rolling Stone »keine Hits« hört, entdecke ich ein Album voller Hits, einen irisierenden Strudel kleiner buntschimmernder Glasperlen, Diamanten darunter. »Everybody Laughs«, »My Apartment Is My Friend« und »She Explains Things to Me« sind eindeutig Singles (was immer das heute noch bedeuten mag), andere eher starke Albumtracks. Kein einziger Langweiler befindet sich unter den zwölf Songs, nichts Schablonenhaftes. Byrne springt mit aufmerksamkeitsdefizitärer Begeisterung von einem überraschenden Detail zum nächsten, von Mondänitäten zu Absurditäten. Der entscheidende Punkt: Dieses surrealistische Pop-, Avantgarde-, Folk-, Orchesteralbum klingt nach Spaß und macht Spaß. Und den gibt es zur Zeit wahrlich nicht im Überfluss.
David Byrne: »Who Is the Sky« (Matador)
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