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Aus: Ausgabe vom 13.09.2025, Seite 10 / Feuilleton
Kino

Darf ich mir glauben?

Hendrik Löbberts Dokumentarfilm »Memory Wars« über die Psychologin Elizabeth Loftus und die menschliche Erinnerung
Von Kai Köhler
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Schwierigkeiten der Wahrheitsfindung: Psychologin Elizabeth Loftus

Zum menschlichen Selbstverständnis gehört die eigene Vergangenheit: Was man erlebt hat, und mit wem, was man wahrgenommen hat, wie sich also die eigene Persönlichkeit entwickelt hat. Der Gedanke, dass die Erinnerung trügen kann, verunsichert. Natürlich kommt es immer wieder vor, dass Verwandte oder Freunde Situationen anders im Gedächtnis haben. Zumeist aber bleibt es bei einer kurzen Irritation – das Selbstbild wird nicht angetastet.

Die US-amerikanische Psychologin Elizabeth Loftus hat gezeigt, wie unzuverlässig das Gedächtnis ist. Per Experiment gelang es ihr sogar, gänzlich erfundene Geschichten in der Erinnerung zu verankern. So sprach sie mit Versuchspersonen über Episoden aus deren Kindheit, die sie zuvor in Erfahrung gebracht hatte. Nachdem sie so Vertrauen aufgebaut hatte, kam sie darauf zu sprechen, wie die Probanden angeblich als Fünfjährige in einem Einkaufszentrum verlorengegangen seien. Nach entsprechenden Suggestivfragen meinte ein Viertel der Versuchspersonen, sich daran erinnern zu können.

Wissenschaftlich war das interessant, hätte aber kaum die »Memory Wars« ausgelöst, von denen im Titel des Films die Rede ist. Allerdings tritt Loftus seit Jahrzehnten als Gutachterin in Strafverfahren auf. Ihre Aufgabe sieht sie nicht darin, die Wahrheit herauszufinden, sondern Richter und Geschworene für die Schwierigkeit der Wahrheitsfindung zu sensibilisieren. Sind Zeugen durch Suggestivfragen während der Vernehmung zu ihrer Aussage bewegt worden, wurden ihre Erinnerungen durch Berichterstattung in den Medien geprägt?

Freilich kann sich eine Jury, anders als Wissenschaftler, nicht auf den Standpunkt zurückziehen, dass die Wahrheit erst zu einem späteren Zeitpunkt oder gar nicht geklärt werden kann. Am Ende eines Gerichtsverfahrens steht immer ein Urteil. Loftus verfolgt einerseits das Ziel, dieses Urteil auf eine bessere wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Andererseits ist es bei Strafverfahren in aller Regel die Verteidigung, die eine Zeugenaussage zu erschüttern versucht; insofern gerät Loftus auf die Seite einer Partei.

Zudem ist ihre Arbeit zwangsläufig politisch. Wenn sie die Rechte von Angeklagten betont und sich gegen umstandslose Verurteilungen ausspricht, steht sie – nicht nur im US-Zusammenhang – auf der liberalen Seite. Wenn sie aber im Prozess gegen Harvey Weinstein die Zuverlässigkeit von Zeuginnen anzweifelt, die teils viele Jahre nach den Ereignissen von sexuellen Übergriffen berichten, zieht sie Ablehnung, teils Hass der Me-too-Community auf sich. Hier steht auf der einen Seite das gesellschaftlich Wünschenswerte: Dass Männer nicht länger aus einer Machtposition heraus ungestraft vergewaltigen können. Auf der anderen Seite wird ein Prozess immer gegen ein Individuum geführt, muss die Frage geklärt werden, ob die je einzelne Aussage und Anklage zutrifft.

Zu Kriegen, ob sie nun um Landbesitz oder um Erinnerungskonzepte geführt werden, gehören stets zwei Konfliktparteien. Insofern führt der Titel der Dokumentation in die Irre. Löbbert hat sich ganz auf Loftus und ihre Arbeit konzentriert. Die Härte der Auseinandersetzung gerät kaum in den Blick. Man erfährt nicht, dass Loftus zeitweise Personenschutz brauchte, lediglich zwei der zahlreichen hasserfüllten Mails, die sie erhielt, werden zitiert. Der Film buhlt nicht um Mitleid.

Ebenso blass bleibt der wissenschaftliche Kampf, der mit dem politischen verknüpft war. Das ist ein Problem. Zwar konfrontiert Löbbert in einer kurzen Sequenz Thesen und Gegenthesen. Doch nur Loftus bekommt Raum, ihre Position ausführlich zu entwickeln. Es mag ja sein, dass die Psychologie Sigmund Freuds unwissenschaftlich ist. Auch die Traumaforschung ist möglicherweise auf einem Irrweg, wenn sie meint, dass schreckliche Erlebnisse wie sexuelle Übergriffe und Vergewaltigung über viele Jahre hinweg ganz aus dem Bewusstsein verdrängt werden könnten. Doch wäre ein Film über eine Wissenschaftlerin überzeugender, würden die Argumente, die sie widerlegt, wenigstens genannt.

Klug hingegen ist die Dokumentation in anderer Hinsicht. Zwischen die berichtenden Teile werden immer wieder Aufnahmen von Straßen eingefügt. Autos bewegen sich oder stoppen, Verkehrsschilder geraten in den Blick. Die Motive sind offenkundig verknüpft mit Experimenten, von denen Loftus erzählt – doch gibt es subtile Abweichungen. Die Zuschauer geraten in die Rolle von Zeugen, vergleichen das gerade Gesehene mit vorher Gehörtem – aber haben sie es wirklich so gehört? Oder konstruieren sie gerade Verbindungen? Sich zu erinnern, während erzählt wird, wie unzuverlässig Erinnerung ist, das rückt einen Prozess ins Bewusstsein, der normalerweise kaum bewusst verläuft. Damit gelingt filmisch ein überzeugenderes Plädoyer für die Position von Loftus als auf der Inhaltsebene.

»Memory Wars – Elizabeth Loftus und die Macht der Erinnerung«, Regie: Hendrik Löbbert, BRD 2024, 92 Min., bereits angelaufen

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