»Durch die Kriminalität wurde die Arbeit schwieriger«
Interview: Thorben Austen, Quetzaltenango
Das Menschenrechtszentrum Frayba in San Cristóbal im mexikanischen Bundesstaat Chiapas beobachtet seit Jahrzehnten die Menschenrechtslage. Wie ist die Situation aktuell im Bundesstaat?
Wir erleben eine tiefgreifende Multikrise im ganzen Land im Zuge des »Krieges gegen die Drogen«. Seit 2006 gelten rund 130.000 Menschen als verschwunden, allein im vergangenen Jahr, unter Präsidentin Claudia Sheinbaum, waren es etwa 9.000. In Chiapas nahm die Gewalt ab 2021 stark zu, doch die Regionalregierung leugnete dies lange. Es gab enorme Probleme, auch mit grenzüberschreitender Dimension: Viele flohen vor der Gewalt nach Guatemala. Die mexikanische Regierung erkennt sie jedoch nicht als Flüchtlinge an und behauptet statt dessen, es handle sich um Familien, die selbst mit der organisierten Kriminalität verbunden seien.
Tatsächlich bestehen enge Verbindungen von Bürgermeistern, Politikern auf regionaler und nationaler Ebene, der Migrationsbehörde und der Polizei mit dem organisierten Verbrechen. Seit Eduardo Ramírez Aguilar im vergangenen Jahr das Amt des Gouverneurs übernommen hat, gibt es Veränderungen: Er leugnet die Gewalt nicht, sondern erkennt sie an und hat eine Spezialeinheit der Polizei eingerichtet. Es geht dabei nicht nur um Drogenhandel, sondern auch um Menschenhandel, Zwangsprostitution und Waffenhandel.
Welche Arbeit leistet Ihre Organisation und wie hat sich diese angesichts der zunehmenden Gewalt verändert?
Seit dem zapatistischen Aufstand 1994 entsenden wir Freiwillige in Gemeinden, die von paramilitärischer Gewalt betroffen sind. Durch den Anstieg der Kriminalität ist unsere Arbeit schwieriger geworden, denn viele ehemalige Paramilitärs sind heute Teil des organisierten Verbrechens. Dennoch setzen wir unsere Arbeit fort und entsenden Freiwillige, soweit es möglich ist.
Inwieweit sind die Zapatisten selbst von der Gewalt betroffen? Schon vor längerer Zeit hieß es, sie hätten Teile ihrer Selbstverwaltung eingestellt.
Auch sie sind betroffen, aber sie bestehen weiter. Ihre Strukturen haben sich noch stärker horizontal entwickelt, ihrem Motto folgend: Das Volk befiehlt, die Regierung gehorcht. Heute gibt es zwölf Verwaltungszentren, die sogenannten Caracoles (Schneckenhäuser, jW). Erst Anfang August fand im zapatistischen Verwaltungsbezirk Morelia ein zweiwöchiges Treffen mit rund 1.000 Teilnehmenden aus 37 Ländern statt. Es war ein wichtiges Ereignis, um den Stand des Widerstands zu definieren. Dabei wurden nicht nur lokale Probleme diskutiert, sondern auch globale Krisen: der Krieg im Kongo, die Lage in Haiti und insbesondere der Völkermord in Palästina.
Mit welchem Ergebnis?
Klar wurde: Das gegenwärtige kapitalistische System produziert nur Elend, Ausbeutung und Tod. Die USA und Europa sind die imperialistischen Zentren. Gleichzeitig sind bestehende Strukturen wie die UNO oder die Organisation Amerikanischer Staaten unfähig, die aktuellen Kriege – eine Schande für die Menschheit – zu stoppen. Deshalb muss klar sein, was nach dem Zusammenbruch des Kapitalismus kommt.
Welche Probleme gibt es mit Großprojekten in Chiapas?
Chiapas zählt weltweit zu den fünf Regionen mit der größten Biodiversität und verfügt über reiche Süßwasservorkommen. Hinzu kommt der Tourismus auf den Spuren der Mayakultur – all das macht den Bundesstaat attraktiv. Zugleich bedrohen ihn verschiedene neokoloniale, neoliberale Infrastrukturprojekte, etwa der Tren Maya oder der geplante Autobahnbau zwischen Palenque und San Cristóbal de las Casas.
In diesem Zusammenhang ist auch der Fall der »Fünf von San Juan Cancuc« wichtig: fünf Männer der Maya-Tseltal, die wegen angeblichen Mordes an einem Verkehrspolizisten in Haft sitzen. Eine UN-Arbeitsgruppe kam zu dem Schluss, dass sie aufgrund ihrer indigenen Identität und ihres Engagements für die Verteidigung ihrer Territorien verurteilt wurden.
Pedro Faro arbeitet als Koordinator beim Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas (Frayba)
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