Paris sucht nächsten Premier
Von Hansgeorg Hermann
Frankreich hat keine Regierung mehr. Der bisherige rechtsliberale Premierminister François Bayrou verlor am Montag abend die Abstimmung über die von ihm selbst gestellte Vertrauensfrage deutlich. Von den 574 Deputierten stimmten in der Nationalversammlung 364 gegen ihn, nur 194 Abgeordnete stellten sich hinter ihn und sein Kabinett. Bayrou reichte am Dienstag vormittag bei Staatspräsident Emmanuel Macron seinen Rücktritt ein. Danach wird er auch nicht – anders als bei einem vom Parlament ausgehenden Misstrauensantrag – als »geschäftsführender« Regierungschef vorläufig im Amt bleiben können. Macron, der Bayrou im vergangenen Dezember als bereits vierten Ministerpräsidenten innerhalb von nur zwei Jahren nominiert hatte, versprach noch am Montag die baldige Ernennung des künftigen Regierungschefs.
Wer das sein könnte und ob der oder die Anführerin einer neuen politischen Führung tatsächlich regieren könnte, steht in den Sternen. Im Gespräch soll unter anderem Verteidigungsminister Sébastien Lecornu sein. Macron, der das Parlament am 9. Juni 2024 ohne Not aufgelöst hatte – als Grund gilt die Niederlage seiner Partei bei den EU-Wahlen –, steht vor den Trümmern seiner Innenpolitik. Während das Lager des Präsidenten vor den vorgezogenen Wahlen am 29./30. Juni über eine relativ stabile absolute Mehrheit verfügte, beobachten die Franzosen inzwischen täglich eine in drei Blöcke zerfallene Nationalversammlung. Die in sich selbst zerstrittene Linke, das rechtsliberale bis rechtsnationale Zentrum sowie die zur größten Gruppe im Parlament aufgestiegene extreme Rechte blockieren sich gegenseitig.
Wen immer Macron auch nominieren mag, sie oder er wird vom ersten Tag an ein Auslaufmodell sein. Zu sehen war nicht erst seit Montag eine bürgerliche Rechte, Les Républicains (LR), die sich immer deutlicher der extremen Rechten annähert. Marine Le Pen, die mitten in einer juristischen Auseinandersetzung steckt, scheint inzwischen für die LR kompatibel zu sein. Nicht mehr der in Teilen faschistische Rassemblement National (RN) ist der eigentliche Gegner. Républicains-Chef Laurent Wauquiez identifizierte am Montag vielmehr die von ihm so bezeichnete »extreme Linke« – gemeint waren die France insoumise und ihr Anführer Jean-Luc Mélenchon – als die »größte Gefahr für unser Land«.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (10. September 2025 um 09:46 Uhr)Was wolle »Micron« – Flasche leer! Macron hat sein Land schon längst nicht mehr im Griff. Frankreich steckt in einer tiefen politischen und wirtschaftlichen Krise. Das hochverschuldete Land erweist sich als reformunfähig und beinahe unregierbar. Dem Präsidenten bleibt nur noch die Flucht in die Außenpolitik – doch auch dort hat er seine Glaubwürdigkeit längst verspielt. Morgen findet in Frankreich ein Generalstreik statt, die Franzosen meinen es ernst! Traurigerweise lässt sich generell feststellen: Die westlichen Postdemokratien vertreten die Interessen ihrer Bürger nicht mehr und erfüllen in keiner Weise die Erwartungen der Gesellschaft. Die politische Elite ist dazu entweder nicht imstande – oder nicht willens.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Torsten Andreas S. aus Berlin (10. September 2025 um 16:19 Uhr)Macron hat sein Land nicht mehr im Griff, die westlichen Demokratien erfüllen – und so weiter. Lieber Herr Hidy (Bitte, verrate uns die Aussprache!), ich und sicher die meisten Lesenden der jW freuen sich schon jetzt auf Ihre nächsten Beiträge, aber wer kann ein Land nicht mehr im Griff haben? Enttarnen wir es so: Ein Präsident hat die komplette Wählerschaft seines Landes nicht im Griff. Weiter geht’s: Was sind westliche Demokratien? Welche verschiedenen undemokratischen Realkonstrukte fallen sofort ins Auge? Vor der Haustür? Fünfprozent»klausel«, Schuldenbremse und Sondervermögen, Asylrecht und Verweigerung trotz EU-Recht, Völkerrecht und Massenmord israelischer Regierenden… – In der Philosophiegeschichte gilt eine Erneuerung vor 2500 Jahren als Fanal: der Übergang vom Mythos zum Logos. Also zur begrifflichen = nicht mehr ikonischen, sondern wahrheitsgetreuen Aussage. Und wir reden/schreiben/denken über das Land. Warum, wenn die vielen verschiedenen dringenden Interessen der Menschen uns allen wichtig sind. Warum dann nicht den wenigen Herrschenden?
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (10. September 2025 um 16:51 Uhr)Lieber Herr S., Sie haben völlig recht: Ein Präsident »hat sein Land« nie wirklich im Griff – gemeint ist selbstverständlich, dass Macron die tiefen sozialen und politischen Spannungen in Frankreich nicht mehr zu kontrollieren vermag. Insofern ist die Formulierung eine Metapher, die auf das real existierende politische Desaster verweist. Auch Ihre Nachfrage nach den »westlichen Demokratien« ist berechtigt. Ich benutze diesen Begriff, weil sich in vielen Ländern, nicht nur in Frankreich, ähnliche Symptome zeigen: Wahlbeteiligung und Vertrauen in die Institutionen sinken, Reformfähigkeit ist kaum vorhanden, während Elitenpolitik an den Bedürfnissen der Mehrheit vorbeigeht. Sie haben vollkommen recht, dass auch in Deutschland Defizite unübersehbar sind – Stichworte wie Fünfprozenthürde, Schuldenbremse oder Asylrecht sprechen für sich. Meine Kritik richtet sich also nicht allein nach außen, sondern ebenso nach innen. Polemik kann dabei ein nützliches Stilmittel sein, um Aufmerksamkeit zu wecken – aber selbstverständlich braucht es auch begriffliche Klarheit und konkrete Analyse. Darin sehe ich keinen Widerspruch, sondern eine notwendige Ergänzung. Herzlichen Dank für Ihre anregende Replik – und auf weitere fruchtbare Debatten!
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