Nepal brennt
Von Thomas Berger
Nach der Ausweitung der schwersten Unruhen seit Jahren ist am Dienstag Nepals Premier Khadga Prasad Sharma Oli zurückgetreten. Kurz darauf stürmten Hunderte Demonstranten den Parlamentssitz in der Hauptstadt Kathmandu und setzten das Hauptgebäude in Brand. Im Laufe des Tages gingen weitere öffentliche Einrichtungen in Flammen auf – darunter das Oberste Gericht, die zentrale Verwaltung und zahlreiche Polizeistationen – sowie die Privathäuser von Politikern. Der internationale Flughafen von Kathmandu stellte seinen Betrieb ein.
Zuvor hatte es bei Zusammenstößen mit Einsatzkräften 19 Tote und mehr als 500 Verletzte gegeben, so eine vorläufige Opferbilanz vom Vortag. Besonders Schüler und Studierende waren in Kathmandu und anderen Städten zunächst gegen das in der Vorwoche verfügte Verbot der meisten Social-Media-Kanäle auf die Straße gegangen. Die Blockade wurde nach Angaben von Kommunikationsminister Prithvi Subba Gurung inzwischen aufgehoben, wie örtliche Medien berichteten. Laut AFP funktionierten die wichtigsten Internetdienste am Dienstag wieder.
Aufgerufen zu den Protesten hatte die 2015 gegründete NGO »Hami Nepal«, deren Vorsitzender Sudan Gurung eine zentrale Rolle bei der Mobilisierung spielte. Via Social Media wurden etwa Aufrufe und Demorouten verbreitet. Die Proteste haben sich unterdessen in eine breite Opposition gegen die politische Kaste entwickelt; kritisiert werden Korruption und die Ineffizienz staatlicher Strukturen. Am Montag hatten Protestierende bereits Absperrungen zum Parlament durchbrochen. Die Polizei setzte nicht nur Tränengas, Wasserwerfer und Schlagstöcke ein, sondern feuerte auch mit scharfer Munition. Die Armee wurde hinzugezogen. Prominente stellten sich öffentlich auf die Seite der Demonstranten. In zahlreichen Krankenhäusern wurden immer mehr Verletzte eingeliefert – über ein Dutzend Personen befindet sich in einem kritischen Zustand, was die Zahl der Todesopfer noch ansteigen lassen könnte.
Innenminister Ramesh Lekhak war am Montag »aus moralischen Gründen« zurückgetreten. Regierungschef Oli hatte für Dienstag ein Allparteientreffen einberufen, beugte sich aber schließlich ebenfalls dem wachsenden Druck und trat zurück, was Präsident Ram Chandra Paudel umgehend akzeptierte. Oli stand einer Koalition vor, die vorrangig aus seinen eher als sozialdemokratisch einzustufenden Marxisten (Kommunistische Partei Nepals/Vereinigte Marxisten-Leninisten, CPN-UML) und dem liberalen Nepali Congress (NC) besteht.
Entzündet hatten sich die Proteste am Verbot von Facebook, Whats-App & Co. Die Regierung hatte behauptet, dass Nutzer der Dienste über Fakeaccounts Falschmeldungen verbreiteten und Straftaten begingen, und den Betreiberfirmen Ende August eine Woche Zeit gegeben, sich ordnungsgemäß registrieren zu lassen. Einige wenige, darunter Tik Tok, folgten der Aufforderung und erhielten eine offizielle Lizenz; in zwei Fällen, darunter Telegram, wird der Antrag noch bearbeitet. Der Meta-Konzern (Facebook, Instagram und Whats-App), Alphabet (Youtube) und X hatten das Ultimatum ohne Reaktion verstreichen lassen.
Die Jugend sah sich durch die Blockade ihrer wichtigsten Austauschmöglichkeiten beraubt. »19 Mitschüler von meinem College sind schon nach Europa oder in die Golfstaaten gegangen. Und andere wollen diesen Schritt demnächst tun«, so Musikstudentin Sharmila gegenüber jW. Auch sie sieht schon länger keine Zukunft mehr in ihrem Heimatland. Zur Perspektivlosigkeit gerade der jungen Generation aus wirtschaftlichen Gründen gesellt sich der Frust über das verkrustete politische System. Demonstranten trugen Schilder mit Aufschriften wie »Schaltet die Korruption aus, nicht Social Media«.
2006 endete in Nepal der zehnjährige Guerillakrieg der Maoisten, die heute drittstärkste parlamentarische Kraft sind. Zwei Jahre später wurde mit der Abschaffung der seit 1768 bestehenden Monarchie der autoritär herrschende König Gyanendra Shah entmachtet. Nach wie vor konzentriert sich die Macht in Kathmandu in einem Kreis weniger alter Männer, die den seit Jahrzehnten dominierenden Kasten entstammen. Die großen Parteien sind zerstritten, nur selten seit 2008 hat eine der wechselnden Koalitionen mehr als ein oder zwei Jahre überdauert.
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Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (10. September 2025 um 03:03 Uhr)»Besonders Schüler und Studierende waren in Kathmandu und anderen Städten zunächst gegen das in der Vorwoche verfügte Verbot der meisten Social-Media-Kanäle auf die Straße gegangen.« Wohlgemerkt für ihre Social-Media-Kanäle, nicht gegen den Kapitalismus, was auch den tieferen Sinn der Ablenkungsfunktion dieser Kanäle darstellt. Solche »Maidane« laufen stets nach dem gleichen Drehbuch ab. Vergleichen wir einmal die »Orange-Revolutionen« in Georgien, der Ukraine, Serbien und Nepal. Nicht zufällig befinden sich alle vier Staaten in unmittelbarer Nachbarschaft Chinas oder Russlands oder stehen in gutem politischen und wirtschaftlichen Kontakt mit China oder Russland. An deren Grenzen soll es nie zur Ruhe kommen. Wenn es in Xinjiang nicht so richtig klappt, dann wenigstens in Nepal. Zunächst nutzt der Regisseur eines Maidans die natürlichen Gegebenheiten. Ein Opernregisseur nutzt bei einer Freiluftaufführung z. B. natürliche Felsen oder den Hintergrund des Meeres. Die CIA nutzt die tatsächliche Unzufriedenheit der Bevölkerung mit Korruption, kapitalistischer Umverteilung, die natürlich in »Europa« oder den USA genauso hoch ist, nur etwas versteckter. Es gibt also einen wahren Grund für die Demonstrationen. Nur ist angeblich nicht der Kapitalismus Schuld (das Wort taucht nie auf), sondern die jeweilige – den USA gegenüber ungehorsame – Regierung, gegen die der Unwillen durch entsprechende NGOs und über das Internet gesteuert und angeheizt wird. Ferner soll es möglichst bei den Protesten Tote geben. Wenn die Regierung nicht hart einschreitet, und damit im Sinne des Regisseurs für die bühnenwirksamen Toten sorgt, dann besorgen das Provokateure aus dem Hinterhalt wie auf dem Maidan in Kiew. Das Internet erfüllt dabei eine Doppelfunktion. Es funktioniert einerseits organisierend, aufhetzend und lenkt Bewegungsströme in kürzester Zeit. Doch ich persönlich bin der Auffassung, dass das Internet nicht nur unsere Jugend süchtig gemacht hat. Der Massenkonsum so viele Stunden am Tag trägt eindeutig suchtartige Züge. Der größte Triumph des Regisseurs besteht dann darin, wenn die Regierung eine Entziehungskur einleitet. Dann tobt der Patient. Nimm ihm sein Heroin weg, dann ist er für sein geliebtes Mittel zu jeder Tat bereit, auch zu Brandstiftung. Man kann auf Essen und Schlaf verzichten, aber doch nicht auf Social Media. Merkwürdig: Noch vor 50 Jahren konnten die Menschen ganz gut ohne diesen Stoff auskommen. »Die Jugend sah sich durch die Blockade ihrer wichtigsten Austauschmöglichkeiten beraubt.« Schlimmer finde ich, dass sie einen Bildschirm und nicht den persönlichen Kontakt als wichtigste Austauschmöglichkeit betrachten. Jeder Süchtige schränkt den Kontakt mit der realen Umwelt ein. »19 Mitschüler von meinem College sind schon nach Europa oder in die Golfstaaten gegangen. Und andere wollen diesen Schritt demnächst tun«, so Musikstudentin Sharmila gegenüber jW. Wovon bezahlen sie eigentlich Reise und jahrelanges Studium in Westeuropa, wenn es ihnen in Nepal so schlecht erging? Ich kenne aus eigener Anschauung das Zahlenverhältnis von Bewerbern aus Asien und Deutschland um einen kostenlosen Studienplatz an der Hochschule für Musik »Hanns Eisler«. Woanders ist das nämlich teurer. Solange nach dem Musikstudium anschließend 100 Bewerber auf eine einzige freie Stelle kommen, wäre es nicht die schlechteste Lösung, einen anderen Beruf zu ergreifen und in Nepal etwas aufzubauen.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Torsten Andreas S. aus Berlin (10. September 2025 um 20:41 Uhr)Scharmila – sehr charmant! Bei Marx vor 150 Jahren: Beschreibe nicht, sondern kläre das Problem! In diesem Falle: Was genau wurde warum abgeschaltet? Panne bei Facebook = Hass auf die gesamte Welt in Nepal? Um was zu erreichen? Neunzehn Freunde allein von Shamira verlassen ihre armen Familien. Wie geht Verlassen in den Shamirakreisen? Wunschdenken, Koffer packen, rein ins Taxi, weg mitm Jet, oder? Klingt naheliegend. Wundervolles Beispiel/Einzelschicksal, um dem Rest der Menschen auf diesem Planeten zu versinnbildlichen: So steht’s um alle in Nepal. – Oder das stimmt vielleicht eher peripher. Weil der kartesianische Grundsatz vom Universellen Zweifel selten versagt. Oder wer demonstriert demokratisch und friedlich und denkt plötzlich neu, greift in die linke innere Westentasche, zieht blank, zündelt ganz spontan, weil alle bei Demos weltweit stets vorhaben, für Angst und Schrecken zu sorgen und Häuser mit Menschen drin niederzubrennen? – Ich habe diese Machart der Propaganda bereits zum 2.5.2014 in Odessa dargestellt: Gebäude lassen sich nicht aus Demolaune niederbrennen. Die Entscheidung zum Morden fiel nicht nebenbei vor Ort. – Welche Farbenrevolutionskräfte werden sich nun bekennen? (Und müssen die drei Fachkräfte Macron, Merz und Tusk wieder in die Ferne? Ach, wie Victoria-Nuland-entspannt lief’s 2014 mit Witali Klitschko und diesen drei Außenministern aus ukrainisch-demokratisch ambitionierten EU-Staaten, die heute niemand mehr …
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (10. September 2025 um 18:26 Uhr)Herzlichen Dank an F. B. aus U. für den bestechenden Gedanken, dass auch dieser Aufruhr angezettelt wurde und hinter ihm ökonomische Interessen imperialistischen Großmachtstrebens vermutet werden dürfen. Immer soll es so aussehen, als ginge es um Freiheit und Menschenrecht. Doch »man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht«. Außer man merkt sich die, die am Ende stets als Gewinner aus dem Schatten hervortraten. Es sind ja ohnehin immer dieselben.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Martin M. aus Paris (9. September 2025 um 23:14 Uhr)Die Regierung hätte diese Registrierung der sozialen Netzwerke auch »diplomatischer« angehen können. Dennoch traurig, dass Facebook, Whats-App & Co. einen solchen Einfluss haben und solche Proteste hervorrufen. Derweil, gibt es nicht nur in Nepal kaum Proteste gegen Arbeitsverhältnisse oder soziale Ungerechtigkeit bzw. Umverteilung.
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