Kleines Museum
Von Kurt Seifert
Der russische Revolutionär Lenin soll während seines Exils in Zürich gescherzt haben: Wenn der Kapitalismus eines Tages überwunden sein sollte, könne die Schweiz weiterhin als Museum einer dann untergegangenen Epoche dienen. So weit ist es noch nicht, und die Schweiz mischt weiterhin tüchtig mit in einem globalen System, das einerseits gewaltigen Reichtum aufhäuft, andererseits alle Nichtprofitablen aussondert.
Trotzdem behaupten die drei Herausgeber des Sammelbandes »Schweizer Kapitalismus«, dessen »Erfolgsmodell« befinde sich »in der Krise«. Vielleicht ist deren Ausgangspunkt bei den Banken zu suchen. Das Steuerparadies Schweiz kam spätestens in den 1990er Jahren unter Druck. Der Ökonom Michael Roberts bezeichnet das einstmals so gewinnbringende Programm der Schweizer Banken, dessen Zentrum die »geheimniskrämerische private Vermögensverwaltung« bildete, als einen gewaltigen »Misserfolg«. Ihre Versuche, in die Liga der globalen Player aufzusteigen, hätten sich »als ein einziges Desaster« entpuppt.
Unheilige Allianz
Selbst die vielbeschworene Neutralität, dieser »kleinstaatliche Opportunismus«, wie es Mitherausgeber Dominic Iten formuliert, ist nicht mehr das, was sie einmal war. In einer Zeit, »in der die tonangebenden Mächte die Front zwischen dem Wertewesten und einem autokratisch regierten Osten ziehen«, mache sich der Neutrale unbeliebt. Und so versuche die schweizerische Linke, insbesondere die Sozialdemokratische Partei (SP), »ihre Anlehnung an den imperialen Block des Westens mit der Schweizer Neutralität in Einklang zu bringen«. Einzig die nationalkonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) stehe »quer« in der Politlandschaft. Diese »Partei des Kapitals« störe sich an EU-europäischen und transatlantischen Abhängigkeiten und sehe schweizerische Offenheit, beispielsweise gegenüber Russland und China, in Gefahr. Deshalb will die SVP durch eine Volksinitiative die Neutralität in der Verfassung verankern. Manche Kreise links von der SP finden Gefallen daran. Da zeichne sich eine »unheilige Allianz« ab, meint Iten. Andere sehen darin einen Versuch, Widersprüche im bürgerlichen Lager zu nutzen. Eines aber ist klar – »die Konfliktlinien werden neu gezogen«.
Solche Widersprüche gibt es durchaus, wie ein Gespräch der Herausgeber mit der Historikerin Stéphanie Ginalski und dem Historiker Matthieu Leimgruber zeigt, die sich beide mit Elitenforschung befassen. Die schweizerischen Eliten weisen über die Generationen hinweg eine große Kontinuität auf, die sich vor allem in einer Beständigkeit des »Familienkapitalismus« manifestiert. Doch mit fortschreitender Globalisierung zeichnen sich auch hier Bruchlinien ab. Mit dem Aufstieg der SVP wurde die frühere Hegemonie der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP) in Frage gestellt. Insbesondere die Haltung zur europäischen Integration führt zu Verwerfungen innerhalb der Eliten.
Die Kehrseite der eben erwähnten Beständigkeit ist die geringe soziale Mobilität in der Schweiz. Die Klassenverhältnisse werden durch eine besonders ungleiche Verteilung von Vermögen zementiert, wie der Ökonom Hans Baumann und der Armutsforscher Robert Fluder in ihrem Beitrag feststellen. Sie kritisieren, dass die Steuerpolitik kaum noch eine umverteilende Wirkung entfalte und sich so vom Verfassungsgrundsatz einer »Besteuerung nach Leistungsfähigkeit« weit entfernt habe. In diesem Zusammenhang dürfte eine Verfassungsinitiative der Jungsozialist*innen für spannende Auseinandersetzungen sorgen. Sie fordern nämlich die Einführung einer eidgenössischen Erbschafts- und Schenkungssteuer auf Nachlässe und Schenkungen ab 50 Millionen Schweizer Franken (rund 53 Millionen Euro).
Direkte Demokratie?
Lenin war wohl eher skeptisch, was die Chancen des Sozialismus in der Schweiz betraf. Welche Spielräume hat denn eine helvetische Linke zwischen Realpolitik und revolutionären Träumen? Die Herausgeber befragten einen der wenigen noch übrig gebliebenen Marxisten in der schweizerischen Sozialdemokratie, den Politiker und Onkologen Franco Cavalli. Wegen der besonderen Verhältnisse der direkten Demokratie ist die Linke in vielen Städten, Kantonen sowie im Bund an der Regierung beteiligt. Unter diesen Bedingungen plädiert Cavalli dafür, eine Regierungsbeteiligung nicht prinzipiell abzulehnen – zugleich aber nicht darauf zu verzichten, »Opposition gegenüber der kapitalistischen Gesellschaft zu betreiben«. Auch wenn große Würfe, beispielsweise in der Gesundheitspolitik, nicht gelangen, so sei doch festzuhalten, »dass wir zumindest einige der Privatisierungen dank Referenden haben verhindern können«. Die Grenzen einer kapitalistisch geprägten Demokratie sind Cavalli bewusst, doch von seinen Träumen will er nicht lassen: »Wir sollten unsere direkte Demokratie weiter ausbauen, etwa im Sinne der Pariser Kommune!«
Arman Spéth, Dominic Iten, Lukas Brügger (Hg.): Schweizer Kapitalismus. Erfolgsmodell in der Krise. Mandelbaum-Verlag, Wien 2025, 258 Seiten, 25 Euro
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Leserbrief von Mike (8. September 2025 um 16:55 Uhr)Eine Initiative der »Jungsozialisten« ist immer chancenlos und löst auch keine spannenden Debatten aus, sondern ausschließlich hysterisches Gekreische in den üblichen Medien. Das Thema ist danach verbrannt, statt im Diskurs verankert. Die CH wird so wenig eine Erbschaftssteuer bekommen wie Doitschland.
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