Israelischer Lehrplan für alle
Von Helga Baumgarten, Jerusalem
Am 1. September hat das neue Schuljahr begonnen: In Israel, im Staat Palästina, sprich in der Westbank, und natürlich auch in Ostjerusalem. Dort gibt es ein einziges Flüchtlingslager, Schufat, ein Lager, in dem Vertriebene des Kriegs von 1948 leben müssen. Die Kinder dort lernen in Schulen, die vom UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) gebaut wurden und seitdem von ihm betrieben werden. Von Netanjahus Regierung wurde die UNRWA inzwischen zur »Terrororganisation« deklariert. Damit sind offenbar auch die Schulen in Ostjerusalem, sieben an der Zahl, zu »Terrorbildungsstätten« geworden.
Was wird aus den über 850 Schulkindern im Lager? Wo können sie bzw. wo dürfen sie in Zukunft ihre Schulausbildung machen? Kurz vor Ende des vergangenen Schuljahrs hatte die israelische Polizei die Schulen geschlossen. Damit fehlt den Kindern der Abschluss für das Jahr 2024/2025. Der Rektor einer Schule in Ostjerusalem, die von der Stadt anerkannt ist, ließ mich wissen, dass das Bildungsministerium ihm 150 Kinder zugeteilt hat. Das läuft auch bei anderen Schulen so. Alle Eltern aus dem Lager, deren Kinder keinen Platz gefunden haben, sollen sich ans Ministerium wenden, damit sie zugewiesen werden können. Schon jetzt überfüllte Schulen platzen damit aus allen Nähten. Nicht nur die Kinder der UNRWA-Schulen, sondern alle Schulkinder in Ostjerusalem stehen, mitsamt ihren Eltern und den diversen Schulleitungen, vor wegweisenden Entscheidungen. Das israelische Erziehungsministerium übt enormen Druck aus, mit einem klaren Ziel: An allen Schulen soll das israelische Curriculum eingeführt werden, den palästinensischen Lehrplan will das Ministerium aus Ostjerusalem verbannen.
Eine Schulleiterin informierte mich, dass sie schon vor einigen Monaten entsprechende Anweisungen bekommen habe: In diesem Schuljahr kann das palästinensische Curriculum noch beibehalten werden. Ab Herbst 2026 gilt nur noch das israelische. Verweigert sich eine Bildungseinrichtung, wird sie entweder geschlossen oder erhält keine finanzielle Unterstützung mehr. So sieht das in Zahlen aus: Derzeit lernen schon fast 23.000 Kinder in Ostjerusalem nach dem israelischen Lehrplan. Das sind etwa 27 Prozent der Schulkinder zwischen sechs und 17 Jahren. Um spätestens 2026 die 100 Prozent zu erreichen, wird ein sehr einfaches Druckmittel eingesetzt. Denn in Ostjerusalem fehlen derzeit fast 1.500 Klassenräume – die zusätzlich verteilten Kinder aus dem Schufat-Lager nicht einkalkuliert. Der Fünfjahresplan des Bildungsministeriums zum Bau von zusätzlichen Klassenräumen kann nur an Schulen, die nach dem israelischen Lehrplan unterrichten, zur Anwendung kommen: Das bedeutet Aus- und Neubauten sowie eine gute finanzielle Ausstattung. Mit dieser Methode will die Regierung die Ostjerusalemer Kinder zu guten Israelis erziehen, obwohl sie nur geduldete »Residents« (Einwohner) sind, keine Staatsbürger.
Aber die Eingriffe von oben gehen noch weiter. Ran Yaron, der Sprecher von Ir Amim, einer linken kritischen israelischen Nichtregierungsorganisation, wies mich darauf hin, dass ein Gesetz in Vorbereitung ist. Dieses verbietet, dass Absolventen palästinensischer Universitäten an Schulen in Ostjerusalem unterrichten. Die Folgen dürften katastrophal sein: Der schon jetzt enorme Mangel an Lehrkräften wird sich noch einmal deutlich verschärfen. Und die Lehrerinnen und Lehrer, die derzeit in Ostjerusalem unterrichten, sollen bald jederzeit entlassen werden können, sobald sie ihre politische Meinung öffentlich formulieren. Ran Yaron nennt es das »Gesetz zur Verfolgung von Lehrern«.
Die Folgen der Politik: Palästinensische Identität und Kultur, das gerade in Ostjerusalem so reiche kulturelle Erbe, all das wird den Schulkindern vorenthalten. Man will sie zu einer gesichtslosen Menschenmasse machen, die sich nirgendwo zugehörig fühlt und mit der das siedlerkolonialistische System jederzeit so umgehen kann, wie es ihm beliebt. Schließlich müssen sie verstehen, dass dieses Land der Nationalstaat der Juden ist. Punkt.
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