Kinder, Kranke und Zivilisten inhaftiert
Von Gerrit Hoekman
Zivilisten stellen die große Mehrheit der etwa 6.000 Palästinenser aus dem Gazastreifen, die ohne Anklage oder Gerichtsverfahren in israelischen Gefängnissen sitzen. Die meisten während des Krieges Internierten sind Mediziner, Sanitäter, Krankenpfleger, Lehrer, Beamte, Journalisten, Schriftsteller oder Kinder. Zu diesem Ergebnis kommt eine gemeinsame Recherche des Guardian, der hebräischen Nachrichtenseite Sikha Mekomit (Local Call) und des israelisch-palästinensischen Internetmagazins +972, die am Donnerstag veröffentlicht wurde.
Der Recherche liegt eine klassifizierte Datenbank des israelischen Militärnachrichtendienstes AMAN mit mehr als 47.000 namentlich genannten Personen zugrunde, die als Kämpfer der Hamas und des »Islamischen Dschihad« gelten. Laut Guardian soll es sich um die genauesten Informationen handeln, die Israel über mutmaßliche Kämpfer besitzt. Die Datenbank, die regelmäßig aktualisiert werde, basiere unter anderem auf Akten, die von der Hamas erbeutet wurden. Auf der Liste ist auch vermerkt, welche Personen gefangen sind. Demnach hat Israel nur 1.450 Personen aus den militärischen Flügeln der beiden Organisationen festgenommen – was bedeutet, dass etwa drei Viertel der 6.000 Inhaftierten weder der Hamas noch dem »Islamischen Dschihad« angehören. Der Anteil der Militanten bei den Gefangenen dürfte vermutlich sogar noch niedriger sein, als der Geheimdienst eingesteht: Als Fotos von entkleideten und gefesselten Palästinensern Ende 2023 internationale Empörung auslösten, erklärten hochrangige Offiziere gegenüber der israelischen Zeitung Haaretz, 85 bis 90 Prozent seien keine Mitglieder der Hamas.
Bei einer Verhaftungswelle in Khan Junis habe die Armee keinen Unterschied »zwischen einem Terroristen gemacht, der am 7. Oktober nach Israel eingedrungen ist, und irgendeinem Arbeiter für die Wasserwerke«, sagte ein israelischer Offizier. Viele Verhaftungen sind geradezu absurd: 2023 wurde eine 82jährige Frau, die unter Alzheimer litt, als gemeingefährliche Parteigängerin der Hamas ausgemacht und sechs Wochen festgehalten. Die Festnahme sei nicht gerechtfertigt gewesen und habe auf einem Fehlurteil beruht, erklärte das Militär hinterher. Das könne aber passieren, weil eben auch »Menschen mit gesundheitlichen Problemen oder Behinderungen an terroristischen Aktivitäten beteiligt sein« könnten. Als Beispiel nannte das Militär ausgerechnet den von Israel im Gazastreifen gezielt umgebrachten Militärchef der Hamas, Mohammed Deif, der seit Jahren körperlich beeinträchtigt war.
Auf dem Militärstützpunkt Sde Teiman habe es einige Zeit sogar einen eigenen Bereich für betagte Gefangene gegeben, der den Beinamen »Geriatrieknast« hatte, berichtete ein Soldat, der dort Dienst schob. »Sie brachten Männer im Rollstuhl, Menschen ohne Beine«, wird er in dem Bericht der drei oben genannten Medien zitiert. »Ich vermute, die Begründung für die Festnahme dieser Personen war, dass sie möglicherweise die Geiseln oder etwas anderes gesehen hatten.« Auch Kinder schützen nicht vor willkürlichen Festnahmen: So soll auch eine alleinerziehende Mutter von ihren drei Kindern getrennt worden sein. »Als die Mutter nach 53 Tagen freigelassen wurde, fand sie die Kinder bettelnd auf der Straße vor«, so der Guardian.
Auf palästinensische Kinder nimmt Israel ohnehin wenig Rücksicht. Laut dem Israel Prison Service (IPS) saßen am 30. Juni 360 Minderjährige in israelischen Gefängnissen ein. 41 Prozent von ihnen, also 147, waren nie angeklagt worden, geschweige denn verurteilt. Israel nennt das administrative Haft. Die vom IPS Anfang der Woche veröffentlichten Daten beziehen sich nur auf die von ihm verwalteten Gefängnisse. Wie viele Kinder darüber hinaus in den Militärgefängnissen, Verhörzentren und auf Militärstützpunkten wie Sde Teiman eingesperrt sind, ist unbekannt. »Seit Oktober 2023 haben die israelischen Streitkräfte jeden Monat ihre Verwaltungshaft gegen palästinensische Kinder rapide ausgeweitet«, so die NGO Defence of Children International-Palestine (DCIP) in einem Bericht vom Dienstag. »Diese Kinder vegetieren in überfüllten israelischen Gefängnissen vor sich hin, werden mit verdorbenem Essen gefüttert und täglich von israelischen Wachen geschlagen, während sie völlig von der Außenwelt, einschließlich ihrer Familien und Anwälte, isoliert sind.«
Israel hat DCIP im Oktober 2021 als terroristische Vereinigung verboten, weil die NGO angeblich enge organisatorische Verbindung zur marxistischen Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) haben soll. Menschenrechtsexperten der Vereinten Nationen verurteilten das Verbot umgehend als »frontalen Angriff auf die palästinensische Menschenrechtsbewegung. Eine Demokratie, die anerkannte Menschenrechte und humanitäre Standards einhält, würde ihre Stimmen nicht zum Schweigen bringen.« Hinreichende Beweise für eine Verbindung zur PFLP hat Israel auch nach Meinung der deutschen Regierung nie vorgelegt.
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